Swetlana Alexijewitsch – Secondhand-Zeit

Swetlana Alexijewitsch – Secondhand-Zeit1991 wurde die Sowjetunion aufgelöst. Doch die Werte und Einstellungen, die sie mit ihrem Sozialismus einverleibt hat, können nicht einfach so durch einen politischen Schlussstrich ausgetrieben werden. Journalistin und Schriftstellerin Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch hat genau darüber das Buch »Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus.« geschrieben. 2013 wurde die Belarussin dafür mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

Alexijewitsch hat dabei eine eigene literarische Gattung erschaffen. Nicht die Stimme der Autorin trägt das Buch. Es sind die Stimmen des Volkes, die Alexijewitsch wählt und Auszüge von Interviews, die sie wiedergibt und daraus chronisch Literatur formt. »Heraus kommt ein Chor, wie man ihn aus der Antike kennt – aber die Szenen spielen jetzt, im ausgehenden 20. und 21. Jahrhundert«, bemerkt Historiker Karl Schlögel im Klappentext.

Besonders im Fokus steht für die Autorin der »Homo Sovieticus«, despektierlich ausgedrückt der »Sowok«. Heute ist diese Spezies aufgeteilt, beheimatet in der Ukraine, Kasachstan und so weiter. Die Vergangenheit ist allerdings meist ein und dieselbe – sie verbindet. Gulag. Krieg. Zwangsumsiedlung. Unterordnung. »Im Grunde sind wir Menschen des Krieges. Immer haben wir entweder gekämpft oder uns auf einen Krieg vorbereitet. Etwas anderes kannten wir nicht.«

Die Intention von Alexijewitsch, die sie in ihrem Vorwort niederlässt, deutet vorab daraufhin, dass es sich bei »Secondhand-Zeit« um etwas Großes handeln muss. Ihr komme es auf das Innenleben der Befragten an und nicht um emotionslose Daten und Fakten.

Die sowjetische Zivilisation … Ich beeile mich, ihre Spuren festzuhalten. Die vertrauten Gesichter. Ich frage nicht nach dem Sozialismus, ich frage nach Liebe, Eifersucht, Kindheit und Alter. Nach Musik, Tanz und Frisuren. Das ist die einzige Möglichkeit, die Katastrophe in den Rahmen des Gewohnten zu zwingen und etwas darüber zu erzählen, Etwas zu verstehen. Ich staune immer wieder, wie interessant das normale menschliche Leben ist. Unendlich viele menschliche Wahrheiten … Historiker interessieren sich nur für Fakten, die Gefühle bleiben draußen. Sie werden von der Geschichtsschreibung nicht erfasst. Ich aber sehe die Welt mit den Augen der Menschenforscherin, nicht mit denen eines Historikers. Ich bestaune den Menschen … (S. 13)

Warum der Titel? Dieser bezieht auf die wieder in Mode gekommene Popularität der Sowjetunion. Auf den Kult. Sowjetische Lebensmittel liegen überall aus. Auch die Generation der jungen Menschen plädieren für Wladimir Lenin oder Josef Stalin, den viele für einen großartigen Politiker halten, vergessen jedoch, dass Stalin ähnlich viele Opfer wie Adolf Hitler auf seinem Gewissen hat.

Der romantische Gedanke der Freiheit schwirrte in ihren Köpfen. Sie wollten die Freiheit so sehr. Die, die früher in der Küche saßen, heimlich über Revolution und verbotene Literaten redeten. Nur dort ihre Faust bei verschlossener Tür ballten und bei Tee sowie Vodka zu heimlichen Dissidenten wurden. Gleichzeitig Angst vor dem KGB, NKWD, Abhören und Spitzeln hatten. Serviert wurde der Kapitalismus. Der unbekannte, der alles verändert hat – meist aber eine negative Entwicklung genommen hat. Die patriotischen Helden von früher? Ihre Urkunden, Abzeichen sind wertlos, genau wie ihr Ruf. Sie haben für die Heimat gekämpft, sie vor Nazi-Deutschland verteidigt. Den Angriff abgewehrt. Wofür? Für das geliebte Land, das so nicht mehr existiert. Das später trotzallem verloren ging. Aufgrund der Hundertachtzig-Grad-Wende. Konsum und Geld statt Einheit und Glück. Jeder für sich statt Wir-Gefühl. Von wegen Demokratie! Sklaverei! Das große Land sei verkauft worden. Für Wurst, Jeans, Marlboro und Kaugummi.

Wir reden dauernd vom Leiden … Das ist unser Weg der Erkenntnis. Die Menschen im Westen erscheinen uns naiv, weil sie nicht so leiden wie wir, sie haben gegen jeden Pickel eine Medizin. Aber wir haben im Lager gesessen, im Krieg war der Boden mit unseren Leichen übersät, wir haben in Tschernobyl mit bloßen Händen radioaktiven Graphit eingesammelt … Und nun sitzen wir auf den Trümmern des Sozialismus. Wie nach dem Krieg. Wir haben so vieles durchgemacht, so viele Schläge eingesteckt. Wir haben unsere eigene Sprache … Die Sprache des Leidens … (S. 45)

Die Unkenrufe werden lauter. Früher sei doch alles irgendwie besser gewesen …

Russland … Sie haben sich die Füße daran abgeputzt. Jeder kann ihm eins in die Fresse hauen. Sie haben es zu einer westlichen Müllkippe für gebrauchte Klamotten und überlagerte Medikamente gemacht. Für Gerümpel! (Er flucht.) Zu einem Rohstoffanhängsel, einem Gashahn … Die Sowjetmacht? Sie war nicht ideal, aber sie war besser als das, was wir jetzt haben. Würdiger. Überhaupt war ich mit dem Sozialismus zufrieden: Es gab weder übermäßig Reiche noch ganz Arme … keine Obdachlosen und keine Straßenkinder … Die Alten konnten von ihrer Rente leben, sie haben nicht auf der Straße Flaschen gesammelt. Oder Essensreste. Sie haben nicht mit ausgestreckter Hand dagestanden …. Wer mehr Menschen getötet hat – Stalin oder die Perestroika –, das muss man erst mal nachrechnen. (S. 156)

Weiter hält Swetlana Alexijewitsch Schicksale von Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion fest, die eng verbunden sind mit dem Zerfall dieser. Von einer Frau, die sich bei der Miliz ausbilden ließ, weil sie ihre Studiengebühren nicht mehr zahlen konnte und später zum Wiederaufbau nach Tschetschenien wollte. Lebend jedoch nicht wiederkam, sondern als angebliche Selbstmörderin, obwohl die Obduktionsberichte abweichen und die recherchierende Mutter auf zweifelhafte Aussagen ihrer Kollegen stößt. Von Immigranten aus dem Kaukasus, die damals der Sowjetunion ebenfalls angehörten, nun allerdings in Moskau als »Chatschi« oder »Tschurki« verspottet werden, Rechtsextremismus ausgesetzt sind und in Kellern leben müssen, damit sie die Familien in der trostlosen Heimat ansatzweise finanziell unterstützen können.

Viele Schilderungen berühren und gehen tief unter die Haut. Sind meist unbegreiflich, tragisch. Selbst Swetlana Alexijewitsch bleibt davon nicht verschont, wie sie in einem Interview mit dem Buchjournal erklärt: »Und so weine ich auch zuweilen, wenn ich mich während des Schreibens an die Menschen erinnere, die mir ihre Geschichte erzählt haben.« Vieles wirkt nicht real, fiktiv in dieser Dokumentarliteratur, in der sich die Autorin fast komplett heraushält und als Zuhörerin fungiert. Als diejenige, die den Menschen für ihre Seelenöffnung hinterher eine Plattform gibt. Doch nicht nur Opfer kommen zu Wort, obwohl sie überwiegen, auch Personen, die vom Kapitalismus profitierten.

Swetlana Alexijewitsch, die mehrere Jahre für die Fertigstellung dieses Werks benötigte, gelingt mit »Secondhand-Zeit« ein breitgefächertes und ausführliches Zeitdokument, das Empathie hervorruft. Es ist ein beeindruckendes und gleichzeitig schockierendes Abbild einer Generation, die immer noch von Kriegen, Unterwerfung und Stalinismus geschädigt ist und für die kein passendes Rezept gefunden werden kann, das für Wiedergutmachung sorgt. »Secondhand-Zeit« kann dagegen für Verständnis sorgen und die sowjetische Seele eindringlich beschreiben. Menschenforscherin Swetlana Alexijewitsch hat mit ihrer Dokumentationsform ein in sich stimmiges und rundes Meisterwerk zusammengetragen, in dem leider nur keine Hoffnung am Horizont zu sehen ist.

[Buchinformationen: Alexijewitsch, Swetlana (August 2013): Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Hanser Verlag. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Titel der Originalausgabe: Время сэконд хэнд (2013). 576 Seiten. ISBN: 978-3-446-24150-3]

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