Kürze und Würze #10

An diesem Buch kommt im Frühjahr 2019 niemand vorbei, weil Takis Würger etwas kann, was nur wenige Autoren können: Mit wenigen Worten viel erzählen. Dabei erschafft er Figuren, die haften bleiben, wie den einarmigen Fahrstuhlführer, einen SS-Mann der trotz Lebensmittelknappheit auf Gourmet steht und trotz Verbots den Jazz liebt. Oder die geheimnisvolle Jüdin Kristin/Stella, die dem Protagonisten kleine Zettel mit Botschaften hinterlässt. Und den wohlhabenden Jüngling Friedrich, der um jeden Preis die Wahrheit sagen/herausfinden will und das Berlin im Jahr 1942 besucht. Dort verliebt er sich – und muss spüren, wie falsch der Nationalsozialismus ist. Ja – und das vorweg – Würger hat mit seinem Talent eins der Bücher des Frühjahrs geschrieben, auch wenn es leider zu abrupt endet und die Hauptfigur extrem unglaubwürdig wirkt.

[Buchinformationen: Würger, Takis (Januar 2019): Stella. Carl Hanser Verlag. 224 Seiten. ISBN: 978-3446259935]

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Der »Alchemist des neuen Menschen« entschied an der Rampe in Auschwitz, wer leben durfte. Für seine Verbrechen wurde Josef Mengele, der Ingenieur der arischen Rasse, nie bestraft.

Mengele ist der Fürst der europäischen Finsternis. Der stolze Arzt hat Kinder seziert, gefoltert und verbrannt. Der Sohn aus gutem Hause hat fröhlich pfeifend vierhunderttausend Menschen in die Gaskammer geschickt. Lange hatte er geglaubt, sich wieder aus der Affäre ziehen zu können, er, »die Spottgeburt von Dreck und Feuer«; er der sich für einen Halbgott hielt, der Gesetze und Füße getreten und anderen Menschen, seinen Brüdern, teilnahmslos so viel Leid und Kummer zugefügt hatte. (S. 110)

Olivier Guez rekonstruiert in seinem Roman das Leben des Massenmörders nach dem Zweiten Weltkrieg. Er schildert, wie der Hochgebildete nach Argentinien flüchtet und dort im Kreise von anderen Nazis und Rechten einen Neustart wagt. Mengele hat es gut, findet neue Freunde und wird wie die anderen NS-Verbrecher vom argentinischen Präsidenten Juan Perón zunächst unterstützt. Als der israelische Geheimdienst Mossad Adolf Eichmann entführt und verhaftet, wird auch die Luft für Mengele dünner. Aber der »Hüter der Rasseneinheit«, der den Übermenschen produzieren wollte, entgeht den Fängen der Justiz. Flüchtet nach Paraguay und Brasilien. Wird in anderen (fiktiven) Werken stets beschrieben, dass Mengele wie ein König in Südamerika lebte, sieht die Situation in diesem Buch anders aus. Guez beschreibt, die Furcht vor der Verhaftung und die Paranoia Mengeles, die ihn letztendlich krank macht. Mengele ist ohne Gewissensbisse bewusst, was er verbrochen hat – und doch will er sich nicht stellen. Seine Ausrede: gemordet, weil es eine Staatsangelegenheit war. Guez gelingt ein informatives Buch, das den Mythos des Monsters umgeht und gerade deswegen schwer zu fassen ist.

[Buchinformationen: Guez, Olivier (August 2018): Das Verschwinden des Josef Mengele. Aufbau Verlag. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Titel der Originalausgabe: La disparition de Josef Mengele (2017). 224 Seiten. ISBN: 978-3-351-03728-4]

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Alle paar Jahre erstarrt die Literaturbranche kurz, wenn die Absatzzahlen zurückgehen. Dann wird In einigen Artikeln das Buch als Medium beerdigt, weil ein neuer Kontrahent auftaucht, der weiter oben in der Nahrungskette anzusiedeln ist. Der aktuelle Feind heißt Netflix, vor dem das Fernsehen ohnehin, das Kino und eben der Buchmarkt sich fürchten. Werke wie »Die Katze und der General« zeigen jedoch: Niemand muss vor Netflix bibbern, weil der Aufbau und die Dramaturgie von Serien seit jeher in Büchern funktionieren. Das ist nichts Neues, sollte hin und wieder ins Gedächtnis gerufen werden. Der Vergleich zum Format Serie liegt auch hier auf der Hand. Die in Berlin lebende Georgerin Haratischwili ködert den Leser, erschafft mehrere Handlungsstränge und Charaktere, um sie alle irgendwann zusammenführen und ihre Verbindungen aufzulösen. Nach und nach legt sie trockene Zweige hinzu, feuert den Plot an und bringt die Flamme wieder zum Lodern. Das ist anfangs etwas komplex und anstrengend, nach und nach lichtet sich der Nebel.

Hätte man diesen Schinken mit 750 Seiten nicht straffen, diese ganzen Verästelungen und Nebenschauplätze nicht ausradieren können? Zweifelsohne, aber auch Tolstoi hätte theoretisch für »Krieg und Frieden« weniger Tinte und Papier benötigt. Und doch enttäuscht die Autorin etwas, ihr neues Buch kommt nicht an den Vorgänger »Das achte Leben (Für Brilka)« heran. Es geht um den Tschetschenienkrieg und um Fehler, die nicht korrigiert werden können. Haratischwili seziert ihre Figuren, nimmt das Innenleben auseinander – das ist die Stärke. Schwachpunkte lassen sich am Plot identifizieren, der insgesamt doch arg konstruiert erscheint. Kein schlechtes Buch, das aber den hohen Erwartungen nicht gerecht werden kann.

[Buchinformationen: Haratischwili, Nino (August 2018): Die Katze und der General. Frankfurter Verlagsanstalt. 750 Seiten. 978-3627002541]

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Auf diese Gangster-Geschichten von Mario Puzo oder Denis Lehane stehe ich ja. Und ich steh auf die ansehnlichen Bücher vom Liebeskind Verlag. Bei diesem Debüt hier bin ich etwas gespalten, wobei der Anfang rund um einen kleinkriminellen, grünschnabeligen Teenager in der Stadt Cork vielversprechend klang. Die Autorin kann frech schreiben und wunderbar formulieren, vergisst aber sich für eine Hauptfigur zu entscheiden. Stattdessen gibt sie belanglosen Charakteren (Mutter eines Oberganoven) zu viel Raum, um gegen die katholische Kirche zu schießen. Insgesamt kein schlechtes Buch über die »Unterschicht« mit viel Gewalt, Sex und Drogen, irgendwas zwischen Thriller und Tragikomödie, jedoch eins, das wesentlich mehr Potential gehabt hätte.

[Buchinformationen: McInerney, Lisa (Juni 2018): Glorreiche Ketzereien. Liebeskind Verlag. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. 448 Seiten. ISBN978-3-95438-091-6]

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Ein erfolgreicher, leicht abgestürzter Dramatiker reist auf eine französische Insel und will dort seine Autobiografie schreiben. So beginnt der Roman »Fünfers Schatten« des Schweizers Daniel Goetsch. Doch rund um diesen Ausgangspunkt verwebt der Goetsch mehrere Ebenen. 1. Er beschreibt das Leben des Dramatikers und erzählt das seiner Eltern im Zweiten Weltkrieg nach. 2. Er beschreibt das Leben eines älteren US-Amerikaners, den der Dramatiker auf der Insel trifft und über den er stattdessen ein Buch schreiben will. Auch der Ami hatte mit Nazis zu tun. Hält das Gerüst beim Vermischen der Abschnitte und Biografien? Jein. Die Intention des Autors hat sich mir erschlossen, gewisse Parallelen stecken zwischen den dargestellten Leben. Doch war vieles zu weit hergeholt – zu konstruiert. Trotzdem las ich den Raum gerne, weil ich Bücher (Markus Orths »Max«, Julian Barnes »Der Lärm der Zeit«) über Künstler mag, obwohl der Protagonist zahlreiche Stereotype vereinte (Dramatiker als Quergeist, der sich gerne abschießt und rumpimpert). Goetsch hatte einige nicht verkehrte Ideen, kann aber nicht vollständig überzeugen.

[Buchinformationen: Goetsch, Daniel (Februar 2018): Fünfers Schatten. Klett-Cotta Verlag. 272 Seiten. ISBN: 978-3-608-98071-4]

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