Åsne Seierstad – Einer von uns

Er kam nah an die Teenager heran – und drückte ab, so dass die Geschosse die Schädel sicher zerbarsten. Im Juli 2011 tötete Anders Behring Breivik 77 Menschen in Norwegen. Die Journalistin Åsne Seierstad widmet sich in diesem Werk Täter und Opfer. Ihr Stil kann an manchen Stellen kritisch betrachtet werden. »Einer von uns« ist dennoch ein wichtiges Buch, weil wir nachvollziehen, was geschah und wie Rechtsextreme und Populisten denken.

Mit der Bombe in Oslos Regierungsviertel und dem Massaker in einem Feriencamp auf der Insel Utoya erschafft sich Breivik eine Bühne und macht sich zum Hauptdarsteller, was er nie zuvor war. Wie konnte das passieren? Breivik radikalisiert sich nach und nach. Verschwörungstheorien infizieren ihn. Schon als Kind fällt er auf, weil er keine Gefühle zeigen kann. Der Eigenbrötler liebt es zu planen, notiert sich als Sprayer Fluchtrouten, entwirft später Marketingstrategien, Taktiken für die politische Karriere oder für World of Warcraft. Im realen Leben steht Breivik nie im Scheinwerferlicht und findet die Gründe bei anderen. Schuld an seinem Scheitern haben: der Feminismus, die Sozialdemokraten, die islamische Übernahme. Jetzt muss er nur Vergeltung üben, dann wird ihm Aufmerksamkeit garantiert sein. Er bereitet den Gegenschlag vor. Die Anklage lautet: kultureller Völkermord an den einheimischen Völkern Europas. Das Urteil: der Bürgerkrieg und die Deportation der Muslime. Und auch die Polizei patzt…

Die Verfasserin umreißt das ganze Leben von Breivik und das einiger Opfer. Sie wählt für das Attentat auf der Insel als Form die Reportage, die nicht besser geschrieben werden kann. Die Passagen packten mich, ließ mich schneller atmen, der Puls ging in die Höhe. Aber was ist Realität und was erfunden? Der Fall Claas Relotius hat im Journalismus für eine Debatte gesorgt. Kritisiert wurde der blumige Spiegel-Stil, dass viele Journalisten sich zu sehr auf die Narration konzentrieren. Klingen müsse der Text. Auch Seierstad erzeugt diesen Sound. Was sie aber nicht kann und dennoch tut, sie beschreibt Breiviks Gedanken als gegeben, wenn sie beispielsweise den Beginn der Mordserie rekonstruiert: »Während der Adrenalin durch seinen Körper pumpte, wurde er von einer inneren Ruhe erfüllt. Der Wille hatte über den Körper gesiegt. Der Damm war gebrochen.« In diesen Momenten verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Fakt. Seierstad hat nie mit Breivik gesprochen, sie argumentiert, dass sie für dieses Buch alle Akten über Breivik gelesen und den Prozess beobachte habe. Das sind ihre Quellen, die sie mit eigenen Interpretationen unterfüttern muss.

Besonders machen das Werk vor allem die kleinen Details, sie bringen dem Leser Breivik als Mensch näher. Dann, wenn der Terrorist sich beim Bau der Bombe mit Süßigkeiten belohnt und sich vor Krabbeltieren ekelt. Dann, wenn er nach der Festnahme um ein Pflaster bettelt, da er eine kleine Wunder am Finger hat, nachdem er (junge) Menschen massakriert hat. Dann, wenn er beim ersten Verhör vor den Polizisten die Muskeln anspannt und wie ein Bodybuilder posiert.

Er kam nah an die Teenager heran – und drückte ab. Für den vom Gericht als vollzurechnungsfähig bewerteten Breivik war Utoya ein Spiel. Er habe gute Absichten gehabt mit den Morden, als Beitrag gegen den Verlust der ethnischen Gruppen, sagt er hinterher. Schon komisch, dass wir Parteien in Europa haben, die mit Breiviks Einstellungen und Thesen Macht und Wähler gewinnen. Ja, auch deswegen besitzt »Einer von uns« Relevanz.

[Buchinformationen: Seierstad, Åsne (2016): Einer von uns. Die Geschichte eines Massenmörders. Kein & Aber. Aus dem Norwegischen und Englischen von Frank Zuber und Nora Pröfrock. Titel der Originalausgabe (2013): En av oss. 544 Seiten. ISBN: 978-3-0369-5740-1]

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2 thoughts on “Åsne Seierstad – Einer von uns

  1. Mich hatte dieses Buch auch so gepackt, es war zum Teil nicht leicht zu lesen. Nicht wegen der Sprache, sondern wegen des Inhalts. Da es aber eine romanhafte Annäherung war, habe ich es beim Lesen nicht nach journalistischen Maßstäben gemessen. Obwohl es gut recherchiert ist, ohne Frage. Aber nun bei deinem Vergleich mit Relotius macht mich das stutzig. Habe ich mich zu sehr davon tragen lassen? Habe ich im Kopf Realität und Fiktion zu sehr vermischt? Ich kann nicht sagen, dass ich nach diesem Buch die Tat Breiviks nachvollziehen kann, das geht nicht. Aber das Eintauchen in einen Charakter wie ihn war schon besinders. Das Ermöglicht sie auf jeden Fall. Mit Mitteln des Journalismus wäre das nicht möglich.

    Und einen gewissen Schauer vor dem Schrecklichen, ein gewisses Gruseln hat es auch hervorgebracht. Bei mir zumindest. Es ist ein großartiges Buch, auf der feinen Linie zwischen Realität und Wahnsinn, zwischen Realität und Erfindung.
    Nach der Lektüre kann ich mir nicht vorstellen dass ich mir den Film, der letztes Jahr dazu erschienen ist, schauen werde. Zu starker Toback.

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