Julian Barnes – Der Lärm der Zeit

Der Fahrstuhl surrt und faucht, als er von Etage zu Etage zieht und ein Mann, Komponist Dmitri Schostakowitsch, im Mai 1937 darauf wartet, bis sich die Türen öffnen. Der Musiker hält einen Koffer in der Hand, im Inneren befinden sich Zigaretten, Unterwäsche und Zahnpulver. Er raucht nervös Kette, Panik und Angst überfallen ihn. Aber der Staatsdienst NKWD holt ihn nicht ab, er wird nicht verhaftet. Die Katze spielt nur mit dem Mäuschen – Josef Stalin hat Erbarmen.

Julian Barnes hat einen empfehlenswerten Künstlerroman über den Musiker angefertigt, der den Stalinschen Säuberungen und dem Großen Terror entkommen ist. Der britische Autor blickt nicht nur auf den Lebenslauf, sondern probiert, in die Seele und den Kopf von Schostakowitsch (*1906 – †1975) zu schauen. Das macht diesen kompakten Roman aus.

»Was wussten die, die Angst auslösten? Sie wussten, dass sie funktioniert, sogar wie sie funktioniert, aber nicht, wie sie sich anfühlt.« Barnes beschreibt genau, wie sich die Angst anfühlt, als Schostakowitsch in Ungnade fällt. Seine Oper »Lady Macbeth von Mzensk« (1934) wird als Gefahr für die sowjetische Musik bezeichnet, für die Presse ist er ein Volksfeind. Schostakowitsch steht mit dem Rücken zur Wand, umschifft jedoch die Klippen. Und das in einer Zeit, in der der paranoide Stalin den eisernen Besen besonders häufig einsetzt, jeden Verdächtigen und Unverdächtigen wie lästige Fliegen beiseiteschafft.

Der Protagonist muss sich bücken, damit der Diktator seine Kunst nicht verbietet. Schostakowitsch lässt alles über sich ergehen. Er hält vorgeschriebene Reden, verunglimpft Kollegen und ordnet sich unter. Der mächtige Staat hat ihn weichgekocht, zur Marionette gemacht und dafür gesorgt, dass sich Phobien festsetzen. Nicht einmal der Freitod kann ihn retten, dann würde seine Biografie umgeschrieben und von den Oberen in den Dreck gezogen werden.

Immer wieder thematisiert der Musiker, wie weit die »Ingenieure der menschlichen Seele« gehen. Darf Kunst manipuliert werden, um das Kollektiv zu lenken? Am Ende seines Lebens kommt Schostakowitsch zu dem Ergebnis, dass der Kommunismus eine optimistische Tragödie ist, weil das Individuum außen vor bleibt. Er hätte neben den Sinfonien noch mehr Opern verfassen können, was ihm indirekt nicht erlaubt worden ist.

Der Leser muss beachten, dass dieses Werk ein Roman und keine Biografie ist. Der Autor schneidet Schostakowitschs Leben nur an und lässt alles Überflüssige heraus, was genau richtig ist. Barnes setzt sich mehr mit dem »zwischen den Stühlen sitzen« auseinander. Muss sich ein Künstler gegen den Totalitarismus auflehnen oder fügen? Und was drohen ihm für Konsequenzen, wenn er nicht als Werkzeug dem Staat zuarbeitet? Besonders gelungen und ergänzend wirkt zudem das Psychogramm, das einen verstörten Komponisten offenbart. »Die Zeit heilt alle Wunden«, heißt es. Schön wär‘s.

[Buchinformationen: Barnes, Julian (Februar 2017): Der Lärm der Zeit. Verlag Kiepenheuer & Witsch. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Titel der Originalausgabe: The Noise of Time (2016). 256 Seiten. ISBN: 978-3-462-04888-9]

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