Ziel dieser Anthologie ist es, sich mit der avantgardistischen Prosa von Klischees zu befreien, vom Sozialismus, von Dostojewksi, schreibt die Herausgeberin Julia Kissina, die 13 Texte von russischen Autoren gesammelt hat. Wie das bei solchen Büchern ist: Manche davon hab ich nur angelesen, andere dagegen begeistert aufgenommen. Besonders mochte ich, wie Juri Mamlejew ein inszeniertes Begräbnis schildert. Auch Waleri Nugatows Geschichte blieb hängen, weil er einen ungewöhnlichen Franz Kafka im Frühling 1938 als Familienmensch und Genießer in Prag zeigt. Interessant ist, dass mir viele der Autoren gänzlich unbekannt und ihre Texte merkwürdig, etwas irre, verdreht waren. Meinen Horizont konnte ich erweitern – einige neue Namen wurden notiert.
[Buchinformationen: Kissina, Julia (Hg.) (September 2017): Revolution Noir. Autoren der russischen »neuen Welle«. Aus dem Russischen von Ingolf Hoppmann, Olga Kouvchinnikova, Annelore Nitschke und Olga Radetzkaja. 299 Seiten. ISBN: 978-3-518-42766-8]
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Alle feiern Michel Houellebecq, ich kenne viele. Den Roman »Karte und Gebiet« (2011) habe ich seinerzeit abgebrochen, fand ihn langweilig und musste dem Franzosen mit seinem Debüt »Ausweitung der Kampfzone« (1994) eine neue Chance geben. Diesmal hielt ich immerhin bis zum Ende durch. Die Geschichte erzählt ein Informatiker in der Ich-Form, der sich mehr und mehr von den Menschen abkapselt, weil die Gesellschaft ihn anwidert. Houellebecq beschäftigt sich mit der fortschreitenden Technologie, auch mit dem sexuellen Liberalismus. Sicher kein schlechtes Werk, vollkommen aus dem Häuschen war ich bei diesem Houellebecq-Buch aber wiederum auch nicht. Insofern kann ich diese Begeisterung um diesen Provokateur weiterhin nicht teilen.
[Buchinformationen: Houellebecq, Michel (1999): Ausweitung der Kampfzone. Wagenbach Verlag. Aus dem Französischen von Leopold Federmair. 155 Seiten. ISBN 978-3-8031-2689-4]
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Jedes Programm hat diese Bücher, an denen man kaum vorbeikommt, weil sie einfach alle besprechen. Und in diesem Frühjahr gehört Arno Geiger »Unter der Drachenwand« dazu. Zu Recht? Joa… Ich mag den Protagonisten und das Grundgerüst: Der junge Soldat Veit hat fast den ganzen Zweiten Weltkrieg überlebt, wird dann verwundet, bekommt Heimaturlaub und zieht zunächst in die Provinz an den österreichischen Mondsee. Seine Jugend nimmt ihn der F. mit seiner »Firma«. Veit kann den Krieg nicht abstreifen, schluckt Pillen und hat Psychosen:
»Wie eine Sturzwelle kamen die Bilder und spülten mich in den kalten Schacht namens Krieg, geballt empfand ich alle Erniedrigungen des Sterbens, diesmal erwischt es mich, jetzt hat mich mein Glück endgültig verlassen, gleich geht das Licht aus.«
Abseits der Front regeneriert sich Veit aber langsam und hofft mit der Hilfe einer Frau, wieder ein normaler Mensch zu werden. Die Nazis geben dagegen nicht auf, sie brauchen, obwohl sie längst verloren haben, 1945 jede Kraft – auch den invaliden Veit, der längst begriffen hat, dass der totale Krieg ein großer Betrug ist. Bis zu Seite 84 erzählt Geiger nur aus der Perspektive von Veit, dann bindet er Briefe von anderen Personen, ja Kriegsopfern, wie einem Juden ein. Der Wechsel zwischen der Ich-Perspektive von Veit und den Briefen kommt häufiger vor, mich hat er mehrmals gestört. Keine Ahnung warum. Davon abgesehen, hat Geiger einen Roman geschrieben, der nicht zufällig Gesprächsthema ist. Er schafft es, Veits Umgebung und Lage nachvollziehbar und glaubwürdig darzustellen. Unterm Strich: ein Buch, das man lesen sollte, obwohl bereits so viel Literatur vom Krieg existiert.
[Buchinformationen: Geiger, Arno (Januar 2018): Unter der Drachenwand. Hanser Verlag. 480 Seiten. ISBN: 978-3-446-25812-9]
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»In Georgien schrieb ich über Russland, in Russland über Georgien …«, hält Andrej Bitow in diesem Buch fest. Suhrkamp hat es anlässlich des 80. Geburtstags von Bitow neu herausgebracht und eigentlich habe ich erwartet, dass der russische Autor deutlicher und mehr über Georgiens Kultur und Leute schreibt. Stattdessen weicht er zu sehr ab, verzettelt sich und verknüpft mir beispielsweise bei einem Zoobesuch zu viel in seinen essayistischen Texten. Einige Passagen haben meinen Geschmack getroffen: Dann, wenn er die Sehnsucht nach dem Süden und Georgien formuliert. Unterm Strich fiel es mir jedoch schwer, Bitow zu folgen und mich mit seinem abschweifenden Stil anzufreunden… Mein Tipp: Lieber Joseph Brodskys »Erinnerungen an Leningrad« lesen.
[Buchinformationen: Bitow, Andrej (März 2017): Georgisches Album. Suhrkamp Verlag. Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. 279 Seiten. ISBN: 978-3-518-22498-4]
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