Mit Lyrik kann ich wenig anfangen. Eher teilnahmslos habe ich die Gedichte von Nobelpreisträger Joseph Brodsky (*1940 – †1996) aufgenommen. Umso begeisterter waren seine Essays, auf die ich gestoßen bin, die einen Rebellen zeigen, der keineswegs mit dem politischen System d‘accord gehen wollte und jemanden, der die Eltern abgöttisch liebte, sie nach seiner Ausreise in die USA allerdings nie mehr zu Gesicht bekam. Zwei großartige und gleichzeitig faszinierende Texte, die nahegehen.
In »Weniger als man« (1976) blickt der jüdisch-stämmige Brodsky auf seine Kindheit und Jugend zurück. 1940 in Leningrad geboren, dem heutigen St. Petersburg, erlebt er mit dem Aufwachsen eine Militarisierung. Vor allem die Bilder von Lenin sind omnipräsent, stecken in jedem Lehrbuch, auch ist der Antisemitismus besonders bei Lehrern verbreitet. Brodsky entscheidet sich mit 15, der Schule den Rücken zu kehren, weil er sie nicht mehr aushalten kann. Immer die gleichen Zimmer, üblich für einen zentralisierten Staat, und immer die gleichen Porträts von Stalin und Konsorten an den Wänden, die ihn anblicken.
Ich konnte einfach bestimmte Gesichter in meiner Klasse nicht ertragen – die Gesichter einiger Klassenkameraden, aber vor allem die Lehrer. Und so stand ich eines Wintermorgens ohne ersichtlichen Grund mitten im Unterricht auf und nahm meinen melodramatischen Abgang durch das Schultor, im klaren Bewusstsein dessen, dass ich nie wiederkommen würde. (S. 16-17)
Während die ehemaligen Mitschüler »innerhalb des Systems so gut vorankommen«, ist Brodsky Teil der Arbeiterklasse, werkelt z.B. als Maschinist an einer veralteten Fräsmaschine. Die Unterwerfung durch einen Militärdienst entgeht er, weil die Zeit im Gefängnis ihn davor erspart, wo er die Gaunersprache und Sträflingsvokabukar lernt. »Meiner Ansicht nach ist das Gefängnis erheblich besser als die Armee.« Beim vierjährigen Dienst in der Sowjetarmee hätte er stattdessen »eine geistige Zwangsjacke des Gehorsams« anziehen müssen. »Die Armee ist es, die einen letztendlich zum Staatsbürger macht; ohne sie hat man noch eine Chance, wie gering auch immer, Mensch zu bleiben.« Mensch zu bleiben, so gut es eben geht.
Dieses Land mit seiner herrlich flektierten Sprache, die des Ausdrucks subtilster Nuancen der menschlichen Psyche fähig ist, mit einem unglaublichen ethischen Feingefühl (eine positive Folge seiner ansonsten tragischen Geschichte), hatte alle Voraussetzungen für ein geistig-kulturelles Paradies, für ein wahres Gefäß der Zivilisation. Stattdessen wurde es eine öde Hölle mit einem schäbigen materialistischen Dogma und kläglichen konsumorientierten Tastversuchen. (S. 38)
Trost gibt es in der Literatur, die eine ablenkende und eskapistische Wirkung erzielt. Neunzig Prozent der Gespräche drehen sich um Romane, es formen sich begierige Leser. Dickens sei wirklicher als Stalin oder Berija. Die Bücher beeinflussen ihn, mehr als irgendetwas anderes ihn beeinflussen kann.
In ihrem Ethos war diese Generation eine der am stärksten von Büchern geformte in der Geschichte Russlands, und das Gott sei Dank. Eine Beziehung konnte für immer zerbrechen an einer Bevorzugung Hemingways gegenüber Faulkner; die Hierarchie in jenem Pantheon war unser wahres Zentralkomitee. (S. 40)
Der zweite Essay »In eineinhalb Zimmern« ist den Eltern, die bereits beim Verfassen dieser Schrift gestorben sind, gewidmet. Brodsky klingt nie pathetisch, wenn er Mutter Maria und Vater Alexander gedenkt, sondern stets im Rahmen, liebevoll und zärtlich.
Zu dritt leben die Brodskys auf engem Raum und versuchen trotz finanzieller Not in den Nachkriegsjahren, ihrem Jungen ein gescheites Leben zu gewährleisten. Mit 32 Jahren verlässt er die Sowjetunion und damit auch sie.
Ich weiß nicht und werde es nie wissen, wie sie sich während dieser letzten Jahre ihres Lebens fühlten. Wie oft hatten sie Angst, wie oft waren sie vorbereitet zu sterben, wie fühlten sie sich dann, nochmal davongekommen zu sein, und wie schöpften sie dann wieder Hoffnung, wir drei würden noch einmal zusammenkommen. »Sohn«, sagte meine Mutter immer am Telefon, »das einzige, was ich von diesem Leben noch will, ist dich wiederzusehen. Das ist das einzige, was mich weitermachen lässt.« Und eine Minute später: »Was hast du vor fünf Minuten gemacht, bevor du angerufen hast?« »Gerade habe ich abgewaschen. « »Ah ja, das ist sehr gut. Eine gute Sache: abwaschen. Manchmal hilft das ungeheuer. (S. 54)
Der Dichter beschreibt das Zusammenleben und wie der Staat den Eltern immer wieder einen Besuch ablehnt, weil dieser unzweckmäßig sei. Auf dem anderen Kontinent Joseph, dem ebenso – wie vielen anderen Emigranten – auf einen Antrag für ein Notvisum z.B. um der Beerdigung beizuwohnen eisernes Schweigen antwortet. Brodsky wählt für diesen Essay bewusst die englische Sprache und begründet dies so:
[…], denn ich möchte ihnen einen Raum an Freiheit gewähren, den Raum, dessen Weite von der Zahl derer abhängt, die diesen Text wirklich lesen wollen. Ich möchte, dass Maria Volpert und Alexander Brodsky in einem fremden »Bewusstseins-Kode« Wirklichkeit werden; ich möchte, dass englische Bewegungsverben ihre Fähigkeiten beschreiben. Das wird sie nicht auferstehen lassen, aber die englische Grammatik könnte sich zumindest als besseren Fluchtweg aus den Schornsteinen des staatlichen Krematoriums erweisen als die die russische. Schriebe ich auf Russisch über sie, würde ich ihre Sklaverei nur fördern, ihre Reduktion bis hin zur Bedeutungslosigkeit, die in mechanische Vernichtung mündet. (S. 65-66)
Der Papa ist Fotograf und arbeitet für kleinere Zeitungen, davor u.a. Offizier der Fotografie-Abteilung des Marinemuseums, bis er 1950 ausgemustert wird, weil Menschen jüdischer Abstammung keine hohen militärischen Ränge mehr inne haben dürfen. Es versammeln sich zahlreiche Passagen, die mit viel Herzblut verfasst sind, die Gedanken sind klar, philosophisch und kunstvoll wiedergegeben. Wie die Eltern sich necken, Zeichen, die in ihm etwas wecken: »Und ich sehe, wenn ich mich rasiere, seine silbergrauen Stoppeln auf meinem Kinn.«
Die Mama, attraktiv, Spitzname »Keesa«, ist als Sekretärin, Buchhalterin angestellt, zur Zeit des Krieges auch Dolmetscherin in einem Kriegsgefangenen-Lager. Sie schrubbt den Boden der Gemeinschaftswohnung noch mit 75 Jahren, weigert sich von ihrem Sohn ausländische US-Dollars anzunehmen.
Man könnte noch mehr zitieren, noch mehr erwähnen. Es sind so einige Aussagen – »Sie liebten mich mehr als sich selbst« – die auf eine besondere, außergewöhnliche Beziehung hinweisen und diese untermauern. Der Schmerz, die Eltern früh verloren zu haben, weil kein persönlicher, außer ein paar oberflächliche Telefonate, Kontakt nach der Flucht möglich war, erschüttert.
Jedes Kind sehnt sich, in unterschiedlichen Maße, danach, erwachsen zu sein und von zu Hause wegzugehen, raus dem bedrückenden Nest. Raus! Ins wirkliche Leben! In die weite Welt. In ein eigenes Leben. Mit der Zeit geht der Wunsch in Erfüllung. Und eine Zeitlang ist es vollkommen beschäftig mit dem Bau eines eigenen Nestes, mit der Bewerkstelligung seiner eigenen Realität. Und dann, eines Tages, wenn es Herr der neuen Realität ist, wenn seine Vorstellungen verwirklich sind, stellt es plötzlich fest, dass sein altes Nest weg ist, dass die, die ihm das Leben geschenkt haben, tot sind. (S. 80)
Ein Sklave der Diktatur ist Joseph Brodsky nie gewesen, auch weil er die Rückendeckung seiner Eltern hatte, wofür er dankt. Insbesondere der zweite, innige Essay könnte nicht sanftmütiger sein – ein einzigartiges und empathisches Stück. Es sind persönliche Texte: ein Kampf gegen das löchrige Gedächtnis, das radiert, eine »Verteidigung gegen den Zeitkrieg«. Ein wahrer Fund, der nachhallt.
[Buchausgabe: Brodsky, Joseph (1987): Erinnerungen an Leningrad. Hanser Verlag. 119 Seiten. Aus dem Amerikanischen von Sylvia List und Marianne Frisch. Titel der Originalausgabe: Less Than One (1986).]
Tatsächlich ist Brodsky ein sehr anspielungsreicher und damit auch recht hermetischer Lyriker, was nichts über die Qualität der Gedichte aussagt. Man braucht dafür allerdings ein bisschen Zeit und u.U. ein paar Nachschlagewerke oder ein wenig Kenntnis der russischen (und europäischen) Lyrik.
Viel zugänglicher aber nicht weniger eindrucksvoll sind allerdings, da stimme ich Deiner Besprechung völlig zu, diese Erinnerungen an Leningrad. Und diese Hanser-Broschur aus der Edition Akzente mochte ich wirklich sehr gerne. Freue mich sehr, dass Du mit Deinem schönen daran erinnert hast.
Danke dafür und liebe Grüsse
Kai
Lieber Kai,
mein Lyrik-Wissen stammt noch aus der Schule und wurde seitdem nicht ausgebaut. Wahrscheinlich habe ich auch deswegen Probleme mit dieser. Brodskys Essays waren mir dagegen viel mitteilsamer und haben Begeisterung ausgelöst. Für die nahe Zukunft werde ich mir noch „Ufer der Verlorenen“ und das Band „Flucht aus Byzanz“ vornehmen und wohl seine lyrischen Arbeiten weiter außen vor lassen.
Beste Grüße
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