Wassili Grossman – Leben und Schicksal

Die Feuerwüste und den Hexenkessel erlebte Wassili Grossman (*1905 – †1964) als Kriegsreporter mit, die einstige Metropole des Zweiten Weltkriegs – Stalingrad. Nach zähen Gefechten und zahlreichen Opfern verteidigte die Rote Armee ihre Stadt, unterband damit ein Vordringen der Deutschen in Richtung Kaukasus und weiter nach Asien. Dieser Sieg hatte auch einen erheblichen Anteil an der späteren Zerschlagung des Deutschen Reichs, war ein Wendepunkt. Grossman war unter Männern, »die jeden Abend darüber staunten, dass sie den Tag überlebt hatten.« Sein epochaler und monumentaler Roman »Leben und Schicksal« widmet sich diesen Kämpfen im heutigen Wolgograd, beschreibt sie, geht aber auch weiter. Insgesamt rahmt Grossman ein Bild einer blutrünstigen, verlogenen und verabscheuungswürdigen Zeit, das dann zwischenzeitlich hängend auch mal schief wirkt.

Wassili Grossman - Leben und Schicksal

Auf über tausend Seiten verbindet Grossman so einiges; deutsche KZs, russische Gulags, den einfachen Menschen mit dem Oberbefehlshaber, Freiheit mit Unterdrückung, den Nationalsozialismus mit dem Kommunismus, die große Schlacht. Aus zahlreichen Sichtweisen formt sich ein Teig, der aus unterschiedlichen Zutaten geformt ist, bieder schmeckt, jedoch angefasst und gefühlt werden kann.

Durch die Stalingrad-Kapitel können die Gefechts-Verschiebungen, Plätze und Frontabschnitte bis zur Einkesselung der 6. Armee von Friedrich Paulus rekonstruiert werden. Aber das ist womöglich mehr etwas für Militärinteressierte. Wesentlich mehr bringen die Gefühle, Zustände der einzelnen Charaktere und des Kollektivs, die die »Zerbrechlichkeit des Lebens« an der Front spürbarer machen, den Kameradschaftsgeist, die Zuneigung und die Besorgnis um den Anderen.

Am Wendepunkt des Gefechts geschieht manchmal eine überraschende Veränderung, wenn der angreifende Soldat, der sein Ziel schon erreicht zu haben glaubt, sich bestürzt umblickt und die Kameraden nicht mehr sieht, mit denen er brüderlich vereint das Ziel in Angriff genommen hat, der Gegner aber, den er die ganze Zeit über als vereinzelt, schwach und dumm wahrgenommen hat, nun zur Masse und deshalb unüberwindlich wird. An diesem Wendepunkt des Gefechts – klar erkennbar für die, die ihn überleben, geheimnisvoll und unerklärlich für jene, die versuchen, ihn von außen vorauszuahnen und zu verstehen –, an diesem Wendepunkt vollzieht sich eine seelische Veränderung in der Wahrnehmung der Wirklichkeit: Das kühne, überlegene »Wir« verwandelt sich in das zaghafte, zerbrechliche »Ich«, und der glücklose Gegner, den man als vereinzeltes Jagdziel wahrgenommen hat, verwandelt sich in das erschreckende, bedrohlich zusammengeballte »Sie«. (S. 51)

Grossman beschreibt Empfindungen, wie sich die Zeit in der Schlacht wandelt, Sekunden und Stunden nicht mehr die bekannten Einheiten sind, die sie mal waren, sie liegen nun vom Abstand her nah beieinander. Das lang Dauerende vermischt sich mit dem blitzartigen Geschehnissen. Aber die Uhrzeiger drehen weiter ihre Runden … überdauern, während der Mensch (ausnahmsweise) das Recht hat, einen anderen Menschen zu töten.

Welch ein Glück ist es, an der entscheidenden Schlacht um die Heimat teilzunehmen. Und wie grauenvoll und quälend ist es, sich dem Tod gegenüber zur vollen Größe aufzurichten, sich nicht vor ihm zu verstecken, sondern ihm entgegenzulaufen. Es ist furchtbar, so jung zu sterben! Man will doch leben, leben. Es gibt auf der Welt keinen stärkeren Wunsch als den, das junge noch so kurze Leben zu erhalten. Dieser Wunsch beherrscht nicht das Denken, er ist stärker als die Gedanken; er beherrscht den Atem, die Nase, die Augen, die Muskeln, das Hämoglobin im Blut das gierig Sauerstoff verschlingt. Dieser Wunsch ist so allgewaltig, dass man ihn mit nichts vergleichen und messen kann. Furchtbar ist er vor einem Angriff. Furchtbar. (S. 780-781)

Selbstredend ist auch, dass der Autor, selbst Jude, geboren in der Ukraine – seine Mutter wurde von den Nazis erschossen, ihr ist das Buch gewidmet – den Antisemitismus, Faschismus und Holocaust behandelt. Grossman geht davon aus, dass der Faschismus und Mensch nicht gemeinsam existieren können, denn der Hauptfeind bleibt darin der Mensch an sich. Sind die erklärten Feinde ausgerottet, müssen neue her. Hass und Abscheu wird dabei im Volk geweckt, als Vorbereitung und Legimitation der Massenschlachtungen von Menschenmaterial, derweil andere davon profitieren. Der Nährboden des Antisemitismus bleibt der Neid der Einzelnen, ausgelöst durch die persönliche Unbegabtheit. In einer Szene sagt Adolf Eichmann, nachdem die Nazis Zyklon B entdeckt haben, dass das Problem, das nicht in zwanzig Jahrhunderten gelöst werden konnte, in zwanzig Monaten nicht mehr vorhanden sei. Grossman zeigt, wie sich die KZ-Insassen vor dem Gang zur Dusche entkleiden, scherzen, bedauern, dass sie keine Karten dabei haben, um noch vorher ein Spielchen zu machen. Aber auch bis in die Lager (»Das Leben verdorrt dort, wo man mit Gewalt versucht, seine Eigenarten und Besonderheiten auszulöschen«) ist durchgedrungen, was sich in Stalingrad abspielt: »Mit dieser Stadt hing […] das Schicksal der Welt zusammen.«

Ferner stellt er fest, dass im Totalitarismus, sowohl unter Stalin als auch unter Hitler, immer ein bestimmter Punkt ausgeblendet bleibt: die Freiheit. Beide Systeme ähneln sich, sie dulden keine Querdenker und -schläger. Beide haben Führer, Lager, präsentieren sich als Einheit, die nach außen nicht zerbröckeln kann. Während die Nazis die Juden als Feindbild auserkoren haben, haben es die Sowjets einst auf die Adligen und Kulaken abgesehen. Und beide funktionieren nur durch Gewalt, sind dazu fähig, »den menschlichen Geist zu lähmen«.

Der natürliche Freiheitsdrang des Menschen ist unauslöschlich; man kann ihn unterdrücken, doch ausmerzen kann man ihn nicht. Der Totalitarismus kann nicht auf Gewalt verzichten. Verzichtet er auf Gewalt, so bedeutet das seinen Untergang. Immerwährender, nie endender, offener oder getarnter Terror ist die Basis des Totalitarismus. Freiwillig verzichtet der Mensch nicht auf Freiheit. In dieser Erkenntnis leuchtet ein Licht für unsere Zeit, ein Licht für die Zukunft. (S. 258)

Anhand von unterschiedlichen Figuren, Ereignissen und manchmal essayistischen Passagen kommt Grossman immer wieder auf diese Aspekte zu sprechen. Und es ist keine Schande, manchmal den Überblick in diesem herausfordernden Werk zu verlieren. Im Zentrum stehen die Familien Schaposchnikow und Strum, rund um diese werden Themen wie Liebe, Krieg, Aufstieg und Fall, Verrat, Tod eingefädelt. Daneben Frontteilnehmer wie Panzerkorpskommandant Nowikow, andere Befehlshaber, auch deutsche. Manche Gestalten verschwinden genauso schnell, wie sie aufgetaucht sind und setzen sich nur bedingt fest. Wer russische Nachnamen nicht gewohnt ist, wird häufiger zur ersten Seite Personen des Romans zurückblättern müssen, um zuordnen zu können. Es empfiehlt sich ebenfalls, sich ansatzweise mit den Dienstgraden der Roten Armee vertraut zu machen, auch das kann helfen, zwischen all den Leutnants, Majoren, Offizieren usw. zu unterscheiden.

In einem Brief an Stalin-Nachfolger Nikita Chruschtschow schrieb Grossman 1962, dass »Leben und Schicksal« gar kein politisches Buch sei. Er wollte lediglich im Rahmen seiner Möglichkeiten über den Kummer, die Freude, die Irrtümer, den Tod, das Mitleid – über die Menschen – schreiben. Aber natürlich handelt es sich um ein höchstpolitisches Manifest, das er mit seiner Aussage wohl lediglich entschärfen wollte. Sein Magnum Opus wurde erst nach seinem Ableben veröffentlicht. Obwohl Chruschtschow in einem (geheimen) Bericht die Schandtaten des stalinistischen Regimes verurteilte, die Tauwetter-Periode eingeläutet wurde, sahen die Zensoren nicht ein, Grossmans Werk, für das er mehr als zehn Jahre brauchte, zu veröffentlichen. Einen faden Beigeschmack hinterließ schon Boris Pasternaks »Doktor Schiwago«, das in den Westen gelangte, da sollte Grossman nicht auch noch nachziehen. Sämtliche Exemplare von »Leben und Schicksal« wurden konfisziert, abenteuerlich gelang es u.a. nach einer Verfolgungsfahrt abfotografiert dennoch in die Schweiz, wo es 1980 dann publiziert wurde. Grossman glaubte, dass sich der Krebs durch die Sorge um sein Meisterstück in ihm ausgebreitet hat.

In gewisser Weise rückt Grossman das verschobene Bild am Ende wieder gerade, in dem er die Wurzeln der Ideologien von Stalin und Hitler ausgräbt und beide verurteilt. Der Austragungsort und das Drumherum ist das Eine, der Blick hinter den Vorhang das Andere. Wozu? Warum? Grossman bietet darauf Sätze mit Ausrufezeichen an! Durch die vielen Details, jegliche Protagonisten aus unterschiedlichen Schichten manifestiert sich ein umfassendes, ausführliches und drastisches Dokument, das freilich ein Meisterwerk darstellt. Das einen besonderen Platz im Regal einnehmen wird. Das bald wieder hervorgeholt wird, um die markierten Stellen wieder zu entdecken. Das die ganzen Umwälzungen transparent macht. Das etwas bewirkt, was nur die Literatur kann – große versteht sich. Das das ausspricht, was zuvor unausgesprochen blieb.

[Buchinformationen: Grossman, Wassili (2008): Leben und Schicksal. List Verlag. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke. Titel der Originalausgabe: Жизнь и судьба (1959). 1088 Seiten. ISBN: 13 9783548608471]

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7 thoughts on “Wassili Grossman – Leben und Schicksal

  1. Lieber Ilja,
    ich habe mir „Leben und Schicksal“ auch gerade besorgt, aber bisher nur ein bisschen hineingelesen. Gerade ist „Das fahle Pferd“ dran. Ich bin auf Wassili Grossmann durch „Der Meteorologe“ aufmerksam geworden. So führt das Eine zum Andern. Es ist schön, hier immer wieder sehr interessante Rezensionen zu finden, zum Teil mir noch unbekanntes, zum Teil bereits begeistert gelesenes oder, wie in diesem Fall, ein Werk auf das ich schon sehr sehr gespannt bin. Ich schaue immer wieder gerne vorbei!
    Viele Grüße,
    Katharina

    • Liebe Katharina,

      auch ich bin mehr oder weniger durch „Der Meteorologe“ auf Grossman gestoßen. Tatsächlich ist es manchmal sehr spannend, auf welchem Wege und durch welche Links Bücher zu einem gelangen.

      Vielen Dank für deine Worte und Grüße zurück! 😉

  2. Hallo Ilja,
    es klingt als wäre das Buch ziemlich eindringlich. Die Zerbrechlichkeit des Lebens macht auch mir in letzter Zeit immer mal trübe Gedanken, wahrscheinlich passiert das, wenn man älter wird und die Unsterblichkeit der Jugend ablegt.
    Tolle Rezension!

    Viele Grüße,
    Janine

    • Hallo Janine,

      die „Zerbrechlichkeit des Lebens“ kann natürlich besonders durch Fronterlebnisse dargestellt werden – dort waren Menschen so etwas wie Porzellan. Das wird einem bei solchen Texten schmerzhaft bewusst. Die „Unsterblichkeit der Jugend“ legt sich automatisch ab, je mehr man darüber nachdenkt. Im Grunde basiert unser Leben doch auf Vertrauen. Wir setzen uns ins Auto/Flugzeug, sind uns der Gefahr jedoch nicht bewusst, weil wir den Anderen vertrauen. Dass diese sich an Regeln halten, keine Fehler begehen. So geht es bei vielen Dingen, Abschnitten und Aktionen. Ohne diese Basis würde das Leben nicht funktionieren. Und so war es auch im Krieg, z.T. zumindest, auch wenn diese Feststellung dort mehr ausgeklammert ist. Die Kameraden halten den Rücken frei, den Feind kann man jedoch nicht ausrechnen.

      Viele Grüße zurück

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