Imre Kertész – Roman eines Schicksallosen

Aussagen wie »Ich kann sagen, auch ich habe Buchenwald bald liebgewonnen.«, »Fürs Erste genügte es, ein guter Häftling zu werden.« oder »Ja, davon vom Glück der Konzentrationslager müsste ich erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen.« sind an dieser Stelle zwar aus dem Zusammenhang gerissen, verdeutlichen allerdings, eine komplett andere Vorgehensweise und Annäherung an den Holocaust. Stoßen diese doch ein wenig auf Perplexität, in Anbetracht anderer »Häftlingsliteratur«, die überhaupt kein Optimismus verbreitet und die Untaten scharf wiedergibt. Auch deswegen fällt der Roman des Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész ein wenig aus der Reihe, seine Eigenart und Neutralität machen ihn allerdings auch zu etwas Besonderem.

Imre Kertész - Roman eines SchicksallosenEs lassen sich so einige Szenen finden, die die Naivität des 15-jährigen jüdischen Budapesters György fassen. Die Ankunft mit seinen Kameraden in Auschwitz erfreut ihn, weil er die Zugfahrt leid ist und endlich am unbestimmten Ziel ankommen will. Im Lager betrachtet der Junge Blumen und Fußballplätze, stellt sich mit freudiger Erwartung der »Aufnahmeprüfung«, der Selektion, ist sich lange seiner Situation nicht bewusst, sondern fühlt sich, als ob er höher gestellt wäre. Sicherlich kann es den falschen Versprechungen geschuldet sein, die er vor seiner Deportation erhielt. Nein, als Häftling sieht er sich dennoch nicht, obwohl alle gleichgekleidet sind, ist er doch zum arbeiten hier.

Die Morgenfrühe draußen war kühl und wohlriechend, über den weiten Feldern graue Nebelschwaden, dann kam plötzlich, gleichsam wie ein Trompetenstoß, von hinten ein scharfer, dünner roter Strahl hervor und ich begriff: ich sah die Sonne aufgehen. Es war schön und im großen und ganzen interessant: Zu Hause schlief ich um diese Zeit immer noch. […] Andere hatten das Gebäude gleichfalls wahrgenommen, und auch ich sagte etwas darüber zu den Neugierigen hinter mir. Sie fragten, ob ich nicht auch einen Ortsnamen daran ausmachen könnte. Das konnte ich, und zwar gleich zwei Wörter, im Frühlicht, an der schmalen, unserer Fahrtrichtung entgegengesetzter Seite des Gebäudes, auf dem obersten Teil der Wand: «Auschwitz-Birkenau» – stand dort, in der spitzen schnörkeligen Schrift der Deutschen, verbunden durch ihren doppelt gewellten Bindestrich. (S. 87)

Nach und nach erfährt er immer detaillierter die Umstände des Lagers, dass er selbst ein Häftling ist und wird dann nach drei Tagen in Richtung Buchenwald verfrachtet. Alleine der Name dieses Konzentrationslagers ist für ihn poetischer und träumerischer, er lernt sogar, es zu mögen, als er die Tricks verinnerlicht hat. Wie die Lebensmittelrationen eingeteilt werden sollten, wie er etwas Festes aus der Suppe abbekommt oder dass er bei Appellen stets in der Mitte zu stehen habe, weil er dort die wenigstens Schläge abbekommt.

Diese Eindrücke können mit der mangelnden Lebenserfahrung begründet werden oder auch durch eine gewisse Weigerung, der Realität ins Auge zu sehen. Was sein Judentum bedeutet, hat er anfangs nicht begriffen, insofern auch nicht die Argumente für die Deportation. Andererseits auch mit der anfänglichen Täuschung, die er irgendwann durchschaut, spätestens als der Hunger im Außenlager Zeitz immer größer wird, der Körper verrottet und das geistige Abstumpfen beginnt: »Ich hätte zum Beispiel nie gedacht, dass aus mir so schnell ein verschrumpelter Greis werden könnte.« Selten äußert sich die Figur allerdings negativ, verweist stattdessen auf Menschen, die ihm helfen, den Alltag zu bewältigen oder ihn im Lazarett pflegen. Die damit verantwortlich sind, dass er überhaupt überlebt. Am Ende und bei seiner Heimkehr hat György einen Prozess festgestellt und kommt durch seine Erfahrung zu einem Resultat: Dass er ein Schicksal durchlebt hat, was eigentlich nicht seins war, dass er seine Schritte gemacht hat und weitere folgen werden

Kertész, der an diesem Roman mehr als über ein Jahrzehnt gefeilt hat und darin seine eigene Deportation verarbeitet, reduziert dabei die Sprache und begibt sich dabei auf die Ebene des Jungen. Der Ich-Erzähler schildert sein Davonkommen in Stile eines Abenteuerromans, was natürlich makaber klingen mag und dem eigentlichen Gegenstand nicht gerecht wird. Aber Kertész hat das auf eine interessante Weise gelöst. Der Leser weiß natürlich, wo sich der Protagonist befindet und wie seine kindliche Sicht zu bewerten ist. Nur, weiß er das nur vermeintlich, weil er nie ein Lager – wie Kertész oder sein Alter Ego György – überstanden hat und deswegen die Tatsachen ohne den Status eines Zeitzeugen lediglich abweichend einschätzen kann. Durch diesen Kunstgriff wird der Rezipient herabgestuft, da seine Analyse des Geschehens lediglich auf ein historisches Wissen fundiert.

Wie lässt sich Glück mit einem Konzentrationslager zusammenführen? Es liegt auf der Hand das damit nur das Überleben gemeint sein kann, das mit dem Kapitel Holocaust nicht gleichzeitig abschließt und sich einfach so lösen kann. »Ich werde mein nicht fortsetzbares Dasein fortsetzen«, heißt es von György am Schluss. Imre Kertész dagegen hat bei seinem eigenen Fortsetzen etwas reproduziert, mit dem er gekonnt ein Trauma zu bewältigen versucht.

[Buchinformationen: Kertész, Imre (1998) Roman eines Schicksallosen. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt Taschenbuch Verlag. Titel der Originalausgabe: Sorstalanság (1975). 287 Seiten. ISBN: 3-499-22576-X]

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9 thoughts on “Imre Kertész – Roman eines Schicksallosen

    • Mit Rereads tue ich immer wieder schwer. Es gibt noch so viel zu entdecken, schwirrt mir immer im Hinterkopf, wieso dann noch ein bereits bekanntes Werk noch mal lesen? Aber vielleicht wird sich das irgendwann mal ändern, wenn einige Jahre ins Land verstrichen sind und die Inhalte nicht mehr so präsent sind. 🙂

      Beste Grüße

  1. Lieber Muromez,
    das Buch ist für mich eine echte Entdeckung. Bisher habe ich mich immer umKertesz rumgedrückt, aber nach Deiner eindringlichen Besprechung möchteich dieses Buch unbedingt lesen, denn diese so andere Herangehensweise an den Holocaust interessiert mich sehr.
    Vielen Dank für diesen Tipp und
    Liebe Grüße
    Kai

    • Lieber Kai,

      ich denke, dass dieses Buch unbedingt gelesen werden muss, auch wenn es durchaus Diskussionen mit sich bringen kann und damals für gewisse Aspekte schon ordentlich kritisiert wurde, insofern es falsch aufgefasst worden ist. Für mich war dieses große Werk auch eben durch die besondere Perspektive des Jungen ein Gewinn.

      Liebe Grüße zurück
      Muromez

  2. Es ist ein großartiges Buch und vor vielen Jahren habe ich Imre Kertész bei einer Autorenveranstaltung erlebt, wie er selbst daraus gelesen hat. Das war, als ob man eine Stimme direkt aus der dunkelsten Zeit unserer Geschichte hören würde. Sehr, sehr beeindruckend.

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