Mit dem multikulturellen Lemberg der 30er Jahre wählt Jurij Wynnytschuk ein spezielles Szenario und baut um diese Stadt herum eine einfühlsame Geschichte, die begeistert. Sie springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, enthält mystische und fantastische Elemente. Vor allem handelt sie auch von besonderen Freundschaften und Geistesverwandtschaften, die über den Tod hinaus reichen.
Erst wurde das polnische Lemberg im Zweiten Weltkrieg von den Sowjets übernommen, danach von den Nazis. Damit bildet es einen passenden Nährboden für einen tragischen Plot, der von den ganzen Unterdrückungen und dem damit verbundenen Gräuel handeln könnte, was man in der Anfangsszene noch vermutet. Doch der ukrainische Autor Jurij Wynnytschuk kreiert etwas völlig anderes, zeichnet das Leben von vier Freunden, die das Beste aus ihrer Situation machen und fast unbeschwert den Alltag meistern.
Zwei wesentliche Handlungsstränge lassen sich ausmachen, die parallel zueinander verlaufen und irgendwann überraschend zusammengeführt werden. Zum einen wäre da der Protagonist, Frauenheld und Wissenschaftler Mirko Jarosch, der sich im heutigen Lwiw befindet und die tote arkanische* Sprache erforscht. Zum anderen stehen die Kameraden Joschi (Jude), Wolf (Deutscher), Jas (Pole) und Orest (Ukrainer) im Vordergrund, die trotz ihrer verschiedenen Nationalitäten eine prägnante Gemeinsamkeit haben – alle vier haben ihre Väter verloren, die tapfer 1921 im Kampf gegen die Bolschewiken für die Ukraine gestorben sind.
Von dem Quartett ist nur noch Musiker Joschi auf der Erde, der mittlerweile seinen neunten runden Geburtstag feiern durfte und den Holocaust überlebte. Zufällig trifft Mirko Jarosch auf den einarmigen Geiger Joschi, der ihm ein Buch zusteckt. Dieses hat Orest einst verfasst und es erzählt die Jugend der vier Halbwaisen nach. Eine unbeschwerte Zeit, in der sie vereinigt Streiche spielten, zum ersten Mal in Berührung mit Mädchen kamen und heranwuchsen. Ein Ausweichen ist nicht möglich … schnell befindet man sich durch den Roman im Roman im Lemberg der 30er Jahre (und darüber hinaus), begleitet die Helden auf ihren Streifzügen, riecht die Gerüche der Märkte und spürt die faszinierende Atmosphäre. Außerdem entdeckten sie den Todestango – Orests Rechereche in einer geheimnisvollen Bibliothek dazu ist dabei besonders reizend und aberwitzig voller Phantasmen formuliert.
„ […] Ja, stellen Sie nur vor, letzten Monat hat eine Meute wilder Bücher einen Gelehrten angefallen […]. Das Büchermagazin wird langsam gefährlich. Es hat sein eigenes Leben. Ja, bestimmt, wundern Sie sich nicht! Selbst diese Regale“, er klopfte mit den Fingern gegen das Holz, „sind nicht so leblos, wie es Ihnen scheinen mag. Und erst recht nicht unbeweglich. Sie begeben sie manchmal auf eine Wanderschaft, die Monate dauern kann. Und gerade jetzt hören sie unserem Gespräch zu. Oh, wie bitte?“ Der Alte legte sein Ohr an die ausgeglichene Oberfläche eines Regals und lauschte. „Manch einem mag ihre Unterhaltung wie das Bohren der Holzwürmer vorkommen, ich aber sage Ihnen, dem ist nicht so. Sie flüstern sich etwas zu in ihrer knisternden und knackenden Sprache. […]“ (S. 218/219)
Der Todestango ist dabei eng verbunden mit einer Reinkarnation. Hat man ihn einmal jemand gehört und rezipiert ihn nach der Wiedergeburt wieder, erinnerte man sich an das frühere Ich und an die Menschen, die einst einst umgaben. Auch Mirko Jarosch entdeckt ähnliche Züge des Todestangos in arkanischen Werken, auch hat Joschi ihn damals im Janowska-KZ als Teil des Häftlingsorchesters regelmäßig gespielt. Wie es das Schicksal will, entdeckt Jarosch beim Klang des Stückes am Ende, wer er wirklich ist und welche Verbindungen ausgelöst werden.
„Hmm, ich fürchte, ich kann es nicht ordentlich erklären und es wird einfältig klingen. Also, es geht nicht nur darum, einfach zuzuhören, sondern man muss die Melodie in sich aufnehmen, mit seinem ganzen Körper und Wesen. Der Kunstgriff besteht darin, dass die Tonalität der einzelnen Note der Harmonie der verschiedenen Organe und Teile unseres Körpers angepasst ist. Mit anderen Worten: Unsere Seele ist ein musikalisches Meisterwerk, das ein Orchester aufeinander bestimmter Organe und Körperteile intoniert. Verstehen Sie?“ (S. 126)
»Im Schatten der Mohnblüte« ist ein multidimensionales Buch, das divergente Lesearten hervorbringt, was als Alleinstellungsmerkmal bezeichnet werden kann. Wer sich in die Historie Lembergs vertiefen will, wird genauso fündig wie jemand, der ein besonders ausgetüfteltes Werk sucht und dabei nicht auf humoristische Aspekte verzichten will. Dabei geht der Bezug zur Realität ebenso nicht verloren: Andrej Kurkow hat einen Cameo-Auftritt, auch darf der Geheimdienst SBU nicht fehlen, der alles daran setzt, das Geheimnis des Todestangos für seine Zwecke zu entschlüsseln und dafür ordentlich investiert.
Überdies sind einzelne Figuren besonders liebevoll konzipiert. Eine Großmutter, die für Begräbnisse gebucht wird, dort ihre schauspielerischen Fähigkeiten in Heulattacken beweist. Ein Methusalem als Bibliothekarin, eine Art Nationalstolz, die jeden Platz der Bücher in ihrem Kopf gespeichert hat und sich ihre Jungfräulichkeit für ihren entlaufenen, ins Jenseits übergesiedelten Gatten aufspart. Ein Kommunist, der versehentlich durch den Einsatz von Blumen mit besonderer Wirkung gleich einer Schar von Rotarmisten umbringt. Irgendwie überwiegen die durchaus vorhandenen Passagen, die Brutalität und Terror darstellen, deswegen kaum, dagegen mehr das Burleske.
Jurij Wynnytschuk verkörpert einen kompetenten Guide, der seine Leserschaft bei der Hand nimmt und ihr das geschichtsträchtige Lemberg eindrucksvoll demonstriert. Obendrein liefert er eine wohldurchdachte, märchenhafte Geschichte voller Frohmut, obwohl dieser manches Mal überhaupt nicht angebracht erscheint. Zudem verdeutlicht sie auch Unzertrennlichkeit. Summa summarum: Ein schönes Werk, das bedenkenlos unter die Tanne gelegt werden kann.
[Buchinformationen: Wynnytschuk, Jurij (August 2014): Im Schatten der Mohnblüte. Haymon Verlag. Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil. 456 Seiten. ISBN: 978-3-7099-7145-1]
[Anmerkung: *Arkanien: Staatsgebilde auf dem Territorium der heutigen Türkei, 18.-8. Jh. v. Chr.]
Guten Abend, es ist immer eine Freude deine Lektürevorschläge zu lesen. Vielen Dank:)
Danke sehr! 🙂
Spannend!
Pingback: Andrej Kurkow – Jimi Hendrix live in Lemberg | Muromez
Lieber Muromez, nachdem ich es gelesen hatte, wollte ich mal nachsehen, ob dieses Buch auf diesem blog hier bestrochen wurde, und wurde nicht enttäuscht! Eine wirklich blutige Burleske. Dieses Ossileum, oder wie es heißt, mit der allwissenden Archivarin Pani Konopelka kann es mit dem Bibliotheksturm bei Name der Rose aufnehmen oder mit den Bücherkellern in Luis Zafons Barcelona. Oder waren es keine Keller? Manchmal ist mir die plakative Darstellung der Bolschewiken etwas aufgestoßen, aber wenn sie sich wirklich wie die Tiere benommen haben…Ich finde jedoch dass diese Hähme den Gesamteindruck schmälert. Allerdings sind die grausamen Dinge wieder sehr gekonnt in diesen musikalischen Fantasy-Thriller eingebunden, dass man sie annehmen kann. Viel gelernt!
Liebe Scherbensammlerin,
danke für deinen Kommentar. Meine Lektüre liegt schon ein paar Monate zurück, aber „die plakative Darstellung der Bolschewiken“ hat mich, mein ich, damals nicht so sehr gestört. Zumindest kann ich mich nicht erinnern. Die Bibliotheks-Stellen waren ein Genuss und da gibt es sicherlich einige Verweise und Referenzen zu anderen literarischen Werken, wie von dir angesprochen u.a. Umberto Eco. Das Buch hat jetzt nichts Weltbewegendes, war aber gute Unterhaltung, aus der man Einiges entnehmen konnte.
LG
Ich weiß, es ist länger her…aber mir gefallen die Verweise zu den verschiedenen Konzepten über das Sterben und dem Danach und dass er das mit einer Melodie verbunden hat. Wusstest du, dass die Todesfuge von Paul Celan in einigen östlichen Sprachen als Tango Smertii übersetzt wurde? Und das ist ja auch der Originaltitel des vorliegenden Mohnbuches. Es sind einfach viele Verbindungen drin. Sie bewegen nicht die Welt, aber sie machen Spaß, wie du schon sagst. Ebefalls liebe Grüße, Sch.
Nein, das wusste ich nicht! Danke für den Hinweis! 🙂 Ich glaube, dass es da noch wesentlich mehr zu entdecken gibt, wenn man noch genauer hinschaut …
PS: Aber mal nach Lemberg/Lwiw zu fahren, hätte nach diesem Buch immer noch etwas! 😉