Als Nadia Comăneci ihre Kür am Schwebebalken 1976 in Montreal entgegen der Schwerkraftgesetzte mit einer Salto-Kombination beendet, prasseln stehende Ovationen auf das Wunderkind nieder und die Halle steht Kopf. Alles muss sich kneifen! Was die gerade 14-jährige Rumänin bei diesen Olympischen Spielen geleistet hat, wirkt irreal, fast außerirdisch. Nicht einmal der Computer kann diese Leistung anerkennen, ist die Anzeigetafel nicht dafür programmiert, die Bestnote von 10,0 zu vergeben – ein Novum. Journalistin, Schriftstellerin und Musikerin Lola Lafon, aufgewachsen in Sofia und Bukarest, heute in Paris lebend, hat sich Nadia Comăneci angenommen und sie zum Gegenstand ihres Romans gemacht. Gewieft nutzt sie diese Figur, eine der erfolgreichsten Kunstturnerinnen unserer Zeit, und ihren Werdegang von 1969-90, um stellvertretend den Zustand Rumäniens zu verdeutlichen. Neben Nadias Karriere steht auch die Diktatur von Nicolae Ceaușescu im Vordergrund.
Vielleicht sollte zu Beginn deutlich gemacht werden, dass es sich bei »Die kleine Kommunistin, die niemals lächelte« um einen Roman handelt. Betrachtet man Videos von Nadias Auftritten, wird schnell deutlich, dass auch sie gelächelt hat … Die Interviewauszüge, die Lafon zwischen die Kapitel einfließen lässt und die Gespräche zwischen der Autorin sowie der Sportlerin veranschaulichen sollen, sind rein fiktiv, nicht den Tatsachen entsprechend. Natürlich gibt es Fakten, Orte und Personen, die real sind, aber parallel dazu auch Gerüchte über Nadia, die Lafon aufwärmt und sie teils als wahr konstruiert.
Was sie seit Jahren darbietet, braucht vielleicht keine Worte. Wahrscheinlich ist sie unübersetzbar. (S. 112)
Am 18. Juli 2006 um 12:01 Uhr wurde die Aufnahme von Ihrer perfekten Übung in Montreal vom Deep Space Communication Program ausgestrahlt, von Ingenieuren, die mit eventuellen Weltraumbewohnern kommunizieren wollen. Sie erklärten, diese Bilder von der absoluten Schönheit, würden Trillionen von Kilometern jenseits des Sonnensystems durchlaufen, über Lichtjahre hinweg. (S. 272)
So skizziert Lafon die Laufbahn der Ausnahmeathletin mit dem Rattenschwanz, die das Turnen auf ein neues Level brachte und perfektionierte. Doch hinter den Erfolgen steht früh eine eiserne Disziplin und ein Drill, für den ihre Vaterfigur, der Trainer Béla Károlyi verantwortlich ist, der pedantisch jede Nahrungszufuhr protokolliert und quasi auf alles ein Auge hat. Seine Mädchen müssen hungern, sind Essstörungen ausgesetzt – Szenen, die man von der Cola Light schlürfenden Kate Moss kennt. Nadia dagegen wird nie nach ihrem Empfinden gefragt, sie trägt »ein Kostüm von Kindheit«, darunter befindet sich eine seltene Maschinerie, die Eleganz auszeichnet, sie wie eine Fee gleiten lässt.
Sie führt aus, was der Körper ihr diktiert, ein Körper, der der Luft Feuer einschreiben kann, eine Magnesia-Jungfrau von Orléans. Sie kratzt am Unmöglichen, räumt es zur Seite, um Platz zu schaffen für das Nächste, immer das Nächste. (S. 68)
Wie es die Natur will, muss Nadia aber auch irgendwann vom Kind zur Frau werden, was sich als Schwierigkeit herausstellt. Die Periode wird als Krankheit bezeichnet, der Hormonhaushalt durcheinandergewirbelt und der Körper bekommt Rundungen. Plötzlich stimmen die Leistungen nicht mehr, sie wird ausgebremst und muss sich den Veränderungen anpassen. Nicht gerade vorteilhaft, ist Nadia doch eine Stellvertreterin des Kommunismus und wird politisch instrumentalisiert. Auf der Wettkampfebene soll sie am Ende symbolisch auf dem Treppchen über den Russinnen stehen, um zu demonstrieren, dass Rumänien nicht nur politisch die Sowjetunion überholt und sich klar für den Westen ausspricht. Auch sonst begegnet sie Nicolae Ceaușescu regelmäßig und huldigt den Diktatoren bei öffentlichen Veranstaltungen, indem sie vorgeschriebene Reden aufsagt.
Der erste Teil des Buches endet mit Nadias Flucht aus Rumänien, nachdem ihr Trainer sich schon abgesetzt hat. Wurde ihr in Rumänien alles vorgeschrieben, hat sie nun in der USA die Qual der Wahl. Die Medien stürzen sich auf sie und sie tritt dabei immer wieder in Fettnäpfchen.
Nur selten schaut die Autorin in den Kopf von Nadia Comăneci, stattdessen erzählt sie ihre Geschichte eher distanziert, indem sie vielmehr das Drumherum festhält wie die Trainings, Akrobatik und die Reaktionen der Zuschauer auf Nadias Darbietungen. Lafon geht allerdings nicht zimperlich mit der erfundenen Nadia Comăneci um, die durch die Konstruktion im Grunde ziemlich schlecht und unsympathisch wegkommt. Durch die Erdichtung wird ihr ihre Vorbildfunktion genommen, unter anderem weil sie Ceaușescu nahe steht, gar eine Affäre mit seinem Sohn beginnt und Arroganz ausstrahlt.
Gelungen sind auch die Passagen, in denen Nadia und ihre Landsleute aggressiv die Staatsform verteidigen und der »vorgefertigten Sicht des Westens« entgegentreten. »Tja, mit der politischen Zensur ist es vorbei, aber keine Sorge, stattdessen zensiert jetzt die Ökonomie!« Ja, Nadia wurde befohlen zu hungern, aber was ist mit dem Schlankheitswahn und den ganzen Diäten, die heutzutage Mode sind? Etwas vollkommen anderes?
» […] Und ich bin nun mal das Produkt dieses Systems. Bei Ihnen wäre ich niemals Turnmeisterin geworden, meine Eltern hätten sich das nie leisten können, für mich war alles gratis, Ausrüstung, Training, ärztliche Betreuung. […] In den 1990er-Jahren gehörte es zum guten Ton, unsere Vergangenheit zu verdammen, als hätte es unter der kommunistischen Herrschaft gar nichts Gutes gegeben, als hätten wir keine Vergangenheit! Wir haben gelebt! Wir haben sogar gelacht! Geliebt! Dass es kein Mehl gab? Stimmt. Dass wir alle uniformiert waren? Ja, stimmt. Aber wir haben Kinder nicht ausgelacht, wenn ihr Sweatshirt nicht von der ›richtigen‹ Marke war, Kleider waren Klei-der und keine Symbole! (S. 209-210)
Der Stoff mit der einstigen Lolita im Vordergrund ist nicht so leichtfüßig wie die Sprünge der Artistin. Zum einen findet sich ein Regime vor, das unterdrückt. Frauen diktiert, wann und wie viele Kinder sie zu bekommen haben. Einwohnern vorschreibt, was sie zu essen bekommen. Zum anderen klettert eine Akrobatin, die wie jeder Sterblicher nicht fehlerlos sein kann, immer weiter nach oben und erhält Vorzüge in einem System, das eigentlich jedes Individuum gleichstellen soll. Diese Gegensätze stechen in einem Sujet über eine faszinierende Person heraus. Wer die Sportlerin Nadia Comăneci aber wirklich war, das weiß nur sie selbst.
[Buchinformationen: Lafon, Lola (September 2014): Die kleine Kommunistin, die niemals lächelte. Piper Verlag. Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke. Titel der Originalausgabe: La petite communiste qui ne souriait jamais (2014). 288 Seiten. ISBN: 978-3-492-05670-0]
Mensch was für ein toller Buchtipp!
Ja, durchaus 🙂