Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen! Zwar häufig gehört, aber umgesetzt? Seien wir mal ehrlich … Gründe fürs Ablenken lassen sich immer finden. Plötzlich schießt einem das Staubkörnchen ins Auge, das natürlich sofort beseitigt werden muss. Und überhaupt, der Schreibtisch sollte endlich aufgeräumt werden, bevor die Lehrbücher aufgeschlagen werden können. Achso, dann wollte ich noch mal kurz im Netz stöbern. Bums, ist es schon Abend, Zeit ins Bett zu gehen. Aber am nächsten Tag wird alles anders, versprochen! Aufschieberitis oder Prokrastination bestimmt unseren Alltag. Der große Erzähler des Russischen Realismus, Iwan Gontscharow (*1812 – †1891), hat dieses leidige Verdrängen schon früh erkannt und in seinem Geniestreich »Oblomow« 1859 thematisiert. Er zeichnet darin unnachahmlich einen lethargischen Träumer, der nur kurz geweckt wird und sich bei lebendigem Leibe vergräbt.
Wenn der liebenswürdige 30-jährige Adelige Ilja Oblomow erwacht, ist das nicht gleichbedeutend damit, dass er auch seinem Bett steigt. Kurz spielt er dann mit seinen Pantoffeln und fällt dann den Beschluss, doch noch ein wenig mehr zu schlummern, nachdem der Genussmensch in seinem geliebten Morgenmantel ein königliches Frühstück zu sich genommen hat. Sein Zimmer verlässt er nicht mehr, die abendliche Feuchtigkeit sagt ihm nicht zu. Kutschen sind ihm zu gefährlich, die Pferde könnten ja durchgehen und große Menschenmengen verabscheut er.
Nur in seinen vier Wänden fühlt er sich pudelwohl, empfängt hin und wieder Besuch von Schmarotzern und wird dort auch von seinem schlampigen Bediensteten Sachar, der ihn regelmäßig Geldbeträge stibitzt, umsorgt. So dümpelt Oblomows Leben in St. Petersburg vor sich hin. Das Monotone und Unaufgeregte gefällt dem Faulpelz. Galgenfristen für das Erledigen von wichtigen Angelegenheiten kennt er nicht, stattdessen wird immer aufgeschoben – heißt ja bekanntlich nicht aufgehoben. Den Drang, Neues zu erfahren oder zu entdecken, und Wissbegierde hat er nicht verinnerlicht. Stattdessen überlegt er viel, an der Realisation seiner Einfälle hapert es nur.
Vergeblich war er auf der Suche nach dem verderblichen Ursprung, der ihn daran hinderte, so zu leben, wie es sich gehört und wie ›die anderen‹ lebten, er seufzte, schloss die Augen, und nach einigen Minuten begann die Schläfrigkeit seine Sinne aufs Neue zu lähmen. (S. 145)
Irgendwann gerät Oblomow dann aber in die Klemme, in die ihn sein Dösen, Schlummern und die Trägheit gebracht haben. Er muss umziehen, da der Vermieter umstrukturieren will, auch stimmen die mindernden Erträge aus seinem Gut Oblomowka nicht. Plötzlich wird er dann aus seinem persönlichen Koma gerissen, nachdem ihm sein deutschstämmiger Freund seit Kindesbeinen an namens Stolz (das komplette Gegenteil von O.) ihn mit Olga bekannt macht, die in ihm ein freudiges Feuer entfacht und einen Wandel mit sich bringt.
Oblomow verliebt und verändert sich im Zuge dessen. Spaziergänge, Treffen, Bücher, Theater und eine gesunde Lebensweise löst die junge Olga, die Oblomows besondere Eigenschaften entdeckt, aus. Beide schmieden Pläne und doch wird Oblomow ständig vom Zweifeln geplagt. Ob sie ihn wirklich lieben könne, ob sie ihr Gefühl falsch definiere? Wie blicken andere Leute auf sie, mutmaßen sie durch ihn über Sittenwidrigkeiten, die ihrem Ruf schaden könnten? Am Ende verliert Oblomow den Wendepunkt Olga. Seine Ausreden, Zweifel und weitere Zufälle sorgen dafür, dass er wieder in die Oblomwerei fällt, und sogar von Betrügern über den Tisch gezogen wird, bis erneut Stolz einschreitet, der Olga nun auch noch für sich gewinnen will.
Das Faszinierende an dem Charakter Oblomow ist, dass er eigentlich eine gebildete und keineswegs schlechte Person darstellt. Oblomow hat Werte, verhält sich immer loyal, bescheiden und nie abstoßend. Erklärungen für sein Verhalten? Die verhätschelnde Erziehung, die Gene (seine Vorfahren hatten das gleiche Lebensideal), die Bildung (er kann die theoretische Wissenschaft nicht auf die Praxis übertragen), das mangelnde Selbstvertrauen und schließlich die Angstzustände, die sich durch das Abschotten entwickelt haben.
»Weil er etwas besitzt, das kostbarer ist als jeglicher Verstand: er hat ein ehrliches, treues Herz! Das ist das Gold, das die Natur ihm mitgegeben hat; unversehrt hat er es durchs Leben getragen. Stöße haben ihn zu Fall gebracht, er ist erkaltet und schließlich gebrochen und enttäuscht eingedämmert, hat die Lebenskraft verloren, nicht aber seine Ehrlichkeit und Treue. Keine maskierte Lüge kann ihn verführen, und niemand kann ihn je auf einen falschen Weg locken; auch wenn um ihn herum ein ganzer Ozean voller Schmutz und Übel wogt, auch wenn die ganze Welt vergiftet und auf den Kopf gestellt wird – Oblomow wird das Götzenbild der Lüge nie anbeten, in seiner Seele wird es stets rein, licht und ehrlich sein … Es ist eine kristallklare, durchsichtige Seele; wenige solcher Menschen gibt es, sie sind rar; es sind Perlen in der Menge […]. (S. 707)
Da gibt es nichts zu diskutieren: »Oblomow« steht für eine erstklassige Lektüre und exzellente Tragikomödie, in der eine Gesellschaft portraitiert wird und in der viel Scharfsinn sowie Humor steckt. Übersetzerin Vera Bischitzky, bereits ausgezeichnet worden für Gogols »Tote Seelen«, verpasst dem Roman zudem die passende Würze und erstellt eine flüssige Sprache. Ein Bravourstück und zwar ein ganz großes der Weltliteratur. Nun ab aufs Sofa, oblomowieren, Jogging-Hose an, kreativ sein und Ideen sammeln, die irgendwann mal, sollten die Umstände passen, – also nie – umgesetzt werden.
[Buchinformationen: Gontscharow, Iwan (Januar 2014): Oblomow. Deutscher Taschenbuch Verlag. Aus dem Russischen von Vera Bischitzky. Titel der Originalausgabe: Обломов (1859). 848 Seiten. ISBN: 978-3-423-14279-3]
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Sehr schöne Rezension! Amüsant zu lesen ist auch, was N.A. Dobroljubow über den Roman Gontscharows schreibt: „Was ist Oblomowtum?“ (in: N.A. Dobroljubow, Ausgewählte philosophische Schriften, Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1949, S, 226-268). z.B.:“Worin bestehen die Hauptzüge des Oblomowschen Charakters? In der völligen Trägheit, einer Folge seiner Apathie gegenüber allem, was auf der Welt geschieht…“ – Solche Leute gibt ja auch heute noch ))))
Der Terminus „Oblomowtum“ wurde auch häufig von W. I. Lenin gebraucht. So z.B. in Bd.33 „über die internationale und die innere Lage der Sowjetrepublik“: „Ich begreife wohl, daß Kommunisten wirklich Zeit brauchen, um Handel
treiben zu lernen, und daß jeder, der das lernen will, anfangs einige
Jahre lang die gröbsten Fehler machen wird; die Geschichte wird ihm verzeihen,
weil das für ihn eine neue Sache ist. Da muß man eben die Hirne
elastischer machen und jedes kommunistische oder vielmehr russische
Oblomowtum und vieles andere ablegen.“ (S.199) …
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