Der neue Lew Tolstoi soll er sein. Mit zahlreichen Preisen überhäuft, für »Venushaar« bekam Michail Schischkin den ›Internationalen Literaturpreis‹ vom Haus der Kulturen der Welt verliehen, gehen seine Bücher in Russland weg wie warme Semmel, sind alle Bestseller. Schischkins Status, geboren in Moskau, ausgewandert in die Schweiz, in Deutschland? Fast gänzlich unbekannt! Das Risiko das komplexe »Venushaar« zu übersetzen, wäre für die Verlage anfangs erheblich zu groß gewesen. Bis dann doch der Entschluss gefasst worden ist, es trotz allem zu probieren…
Über dir gibt es (fast) immer jemanden, der über dich richten kann. Instanzen. Was soll diese Freiheit schon? Nur oberflächlich bei genauer Betrachtung.
Kommen an, wollen Asyl und bombardieren dich mit Verwicklungen, Geschichten. Ob sie nun wahr oder zusammengereimt sind – schwierig. Dem auf den Zahn zu fühlen, heißt die Aufgabe vom Beamten Peter, der eine Art Petrus mimt. An der Himmelspforte steht und entscheidet, ob die sowjetischen Gesuch-Steller in der Schweiz ihre Zelte aufschlagen dürfen. Während die Gespräche bei der Behörde stets mit „Frage:“ gekennzeichnet sind, die Petrus-Peter formuliert, sind die Erwiderungen der GS (Gesuch-Steller) mit „Antwort:“ versehen.
Frage: Ich weiß nicht. Wer ihr wirklich seid, kriegen wir sowieso nicht raus. Ihr kommt hier rein in mein Fischkabinett, erzählt etwas, das nicht ist und nie war, stottert, ächzt, schnieft, greint mir was vor, zeigt ärztliche Bulletins, krempelt Hosen und Pullover auf, um Narben vorzuweisen – als ließe es sich so besser glauben, dass ihr am Haken gehangen habt. Ihr bittet um Wasser, wischt euch Rotz und Tränen mit Papiertaschentüchern ab, von denen immer eine Päckchen vor euch auf dem Tisch liegt, wisst nicht, wohin mit euren Händen, knabbert an den Nägeln, polkt Splitter aus den Fingern, kratzt einen Mückenstich am Knöchel auf, aber in Wirklichkeit gibt es euch gar nicht. (S. 140)
Die Hauptfigur ist eine andere: der Dolmetsch. Stark autobiografisch geprägt, auch Michail Schischkin ging dieser Tätigkeit in seiner Wahlheimat nach, arbeitet er bei der Einwanderungsbehörde als Übersetzer. Leid, Vergewaltigungen, Tschetschenien, Afghanistan, Stalin-Zeit. Schreckliche, gewaltvolle Inhalte der Gesuch-Steller.
Neben diesen Geschichten, die stark ausgedehnt und abschweifend sind, von Barbaren, Hellenen, aber auch von unterschiedlichen Personen wie Klearchos, Proxenos von Theben, Mithridates, Kyros oder von der Liebesromanze Daphnis und Chloe handeln, gibt es weitere Erzählebenen.
Des Dolmetschs Leben wäre dabei eine. Er hat mit einer Frau, die er Isolde nennt, gelebt, die noch vor kurzem ihren eigentlichen Angebeteten Tristan, verstorben, die Liebe schenkte. Trotz des gemeinsamen Sohnes, wobei der Dolmetsch sich im Laufe der Zeit gar nicht mehr so sicher ist, ob er denn seiner sei, leben sie sich auseinander. In der ewigen Stadt, Rom, kommt es dann endgültig zum Clash. Eifersucht, der Vorwurf stets an den Ex zu denken, bringt das Fass zum Überlaufen.
Außerdem, und das wäre damit die dritte Handlungsebene, wird fiktiv das Leben in Tagebuch- und Briefform der russischen Volksmusikerin Isabella Jurjewa abgelichtet. Der Dolmetsch sollte einst eine Biografie über sie schreiben, bekam ihre Memoiren zu Gesicht. Allerdings kam es nie zu einer Veröffentlichung, da die Künstlerin kurz nach Dolmetschs Auftrag ablebte. Russischer Bürgerkrieg, 1. Weltkrieg, Liebhaber, Auftritte, Talent, Zweifel; mit solchen Aspekten beschäftigen sich ihre Einträge.
18. Februar 1916. Donnerstag
Heute Nachmittag war ich wieder mit Leonid Michailowitsch spazieren. Man kann sich mit ihm so interessant unterhalten. Er ist sehr klug und belesen! Was er alles weiß!
Interessant, was er über die Zeit sagte und über die Kunst. Die Zeit sei eine Art Vernichtungsapparat. »Eine Tischguillotine, wenn Sie so wollen. Wie eine Brotschneidemaschine. Jeder Sekunde wird der Kopf abgeschnitten. Sowie sie auftaucht – schnipp! Der Künstler muss dem, der die Kurbel dreht, in den Arm fallen.« (S. 309)
Es bedarf, einer ungewöhnlichen Standhaftigkeit »Venushaar« zu erlegen. Es bedarf nicht nur einen Schuss Genialität, einen derartigen Roman niederzulassen. Und es bedarf reichlich Intellekt und Wissen das Werk von vorne bis hinten komplett zu verstehen. Grenzen verschwimmen. Einschübe. Vergleiche. Sprünge. Linearität? Fehlanzeige! Wer da gerade an der Reihe sei? Was ist tatsächlich, was imaginär? Figuren und Stimmen werden manchmal zu einem undurchdringbaren, verzwickten Geflecht – wie das der wuchernden Farnpflanze Venushaar – das nur schwer auseinandergedröselt werden kann.
Auch ich hatte diese Phasen, wo mir dicke Fragezeichen begegneten: Wer? Was? Wieso? Intensive Momente, die schlichtweg nicht einfach zu überlesen sind. Schon alleine von ihrer stilistischen Arbeit bestechend waren, wie man sie selten vor die Lesebrille bekommt. Die Schwierigkeit dabei: sich in diesem chaotischen Etwas nicht zu verlaufen. Es zu überwinden und sich damit belohnen.
Muss man bei so einem von Komplexität durchzogenen Roman komplett durchsteigen? Nein. Ich zumindest nicht. Ist eine solche Verworrenheit gleichzeitig ein Merkmal für Qualität? Nein, aber in diesem Konstrukt kann man sie als literarisch-wertvoll erachten. Kaum vorzustellen, wie viel Schweiß Andreas Tretner bei der durchaus gelungenen Übersetzung verloren hat.
Was macht also den verwirrenden Roman eigentlich aus, außer dass er eine Herausforderung darstellt? Eindeutig die vielen kleinen Geschichten, die am Ende ein großes Ganzes ergeben. Die knorke Form der Beschreibungen. Die autobiografischen Teile, die sich irgendwann vermixen. Sowie zu guter Letzt natürlich ebenso die außergewöhnliche Sprache Schischkins.
»Venushaar«, ein literarischer Hochgenuss. Harzig, strapaziös. Michail Schischkin begegnet impulsiv, konfus, nebulos. Ein unglaublicher Autor, mit dem es sich viele Tage beschäftigen lässt. Also, bändige das »Venushaar«! Besiege es! Erklimme es! Lehne dich dann zurück und lies es am besten noch mal!
[Buchinformationen: Schischkin, Michail (2012): Venushaar. btb Verlag. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Titel der Originalausgabe: Venerin Volos/Венерин волос (2005). 560 Seiten. ISBN: 978-3-442-74505-0]
Das klingt nach einem wirklich beeindruckend komplexen Roman – werde mich gleich mal auf Buchkauf begeben…
Nur zu! 🙂 Bin auf weitere Meinungen gespannt.
Kommt in jedem fall auf meine Leseliste.
LG, mick.
Freut mich 🙂 Und Grüße zurück.
Das ist wieder einmal ein Autor, den ich überhaupt noch nicht wahrgenommen habe. Und ein spannendes Thema erzählt er auch. Vielen Dank für den Tipp.
Viele Grüße, Claudia
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