Am 16. Juli jährte sich der 30. Todestag des Nobelpreisträgers und eines der wichtigsten Nachkriegsautoren Deutschlands, Heinrich Böll. Passend dazu habe ich zwei Werke des Kölners in die Hand genommen, die schon länger auf dem Stapel liegen, aber aus welchen Gründen auch immer bisher noch nicht angefasst worden sind.
Erzählt wird der Roman, der damals nach der Veröffentlichung 1963 für reichlich Diskussion sorgte, von Hans Schnier. Einem Künstler und Clown, der zu Grunde geht, weil seine Freundin, die Katholikin Marie ihn verlassen hat. Zumindest ist sie der Stein, der alles ins Rollen bringt. Schnier schildert innerhalb eines kurzen Zeitraums, wie es mit ihm samt Alkohol immer weiter abwärts geht.
Mit Marie hat er, wie es sein Umfeld sieht, ein anrüchiges Leben geführt. Ohne Heirat, den Liebesakt jahrelang vollzogen, eine Konstellation, die einen Dorn im Auge der Gesellschaft darstellt. So sitzt Schnier, blank und klamm, frustriert in seinem Appartement, reflektiert, telefoniert und fühlt sich nirgends verstanden. Er wittert eine katholische Verschwörung, da Marie einen echten Katholiken vorgezogen hat. Niemand will ihm helfen, nicht die Familie, nicht die Freunde. Alles und jeder wendet sich von dem talentierten Clown ab.
Ich blickte mich im Spiegel an: meine Augen waren vollkommen leer […]. Es war das Gesicht eines Selbstmörders, und als ich anfing, mich zu schminken, war mein Gesicht das Gesicht eines Toten. (S. 250)
Doch statt in Mitleid zu versinken, nennt Schnier stets das Kind beim Namen, was ihn nicht überall Sympathie einbringt. Es kommen charakteristische Merkmale einer Umwelt heraus, die in ihrer Entwicklung (aus dem Dritten Reich formt sich die Bundesrepublik) scheinheiliger, heuchlerischer und aufgesetzter nicht sein könnte. Die Mutter, damals Nationalsozialistin, ist nun nach dem Krieg im Zentralkomitee der Gesellschaften zur Versöhnung rassischer Gegensätze und schickte ihre Tochter einst an die aussichtlose Front, als dort alles zu spät war und ihr Tod vorprogrammiert war. Der Vater, ein Ex-Nazi und Kapitalist, der eine Liebhaberin hat. Die katholische Kirche, die Wasser predigt, aber Wein trinkt und fleischliches Verlangen anprangert – schon alleine der Terminus… Et cetera pp.
Böll schrieb im Nachwort 1985, dass »Ansichten eines Clowns« für die junge Generation, die Ende der fünfziger, Anfang der sechziger geboren worden ist, schwer zu fassen sei, wovon der Roman eigentlich handle, für Nachgeborene ohnehin nicht, wodurch das Werk zu einem historischen werde. Fürwahr muss man es in den geschichtlichen Kontext einordnen. In der Adenauer-Ära stellte der Katholizismus eine erhebliche Macht dar, unverheiratet zusammenzuleben, wurde nicht toleriert, schon gar nicht akzeptiert.
Große Literatur bietet Pluralität. »Ansichten eines Clowns«, das nicht immer sprachliche Vielfalt offenbart, kann folglich als ein Liebes- oder Eheroman verstanden werden, der von Weltschmerz durchtränkt ist. Aber vor allem – und wie von mir – als ein wohldurchdachter Angriff auf Institutionen und eine Gesellschaft, die fragwürdige Werte vermittelt haben, sich selbst allerdings in Widersprüche verstrickten.
[Buchausgabe: Böll, Heinrich (2000): Ansichten eines Clowns. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 282 Seiten.]
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Sind die Trümmer in »Ansichten eines Clowns« bereits beseitigt, sehen die äußerlichen Umstände in diesem 1953 erschienenen Roman anders aus – Köln ist hier noch nicht wieder vollständig aufgebaut und genesen. Im Zentrum steht das Ehepaar Käte und Fred Bogner. Es sind ihre Stimmen, die den Roman tragen, abwechselnd sind die Kapitel aus der jeweilig anderen Perspektive verfasst.
Fred hat seine Familie verlassen (müssen). Er ist dem Alkohol verfallen, treibt sich in der Stadt, auf Friedhöfen herum und versucht, überall Geld zu pumpen, ohne einer festen Arbeit nachzugehen. Die Aggressionen und Nerven hatte er Zuhause nicht mehr im Griff. Die Enge der Wohnung, der Schmutz – Kalk prasselt von den morschen Wänden, die die Detonationen der Bombardements nicht ausgehalten haben – und die Armut haben ihm zu schaffen gemacht. Seine Wut darüber ließ er an den drei Kindern aus.
Käte hat während des Kriegs zwei Kinder verloren, auch sie ist verzweifelt und führt eine Fehde mit der Nachbarin, die aufgrund von Kontakten zur katholischen Kirche eine größere Wohnung zugesprochen bekam und stets auf der Lauer ist, jeden Fehlschritt tadelt. Fred und Käte treffen sich dennoch regelmäßig, lieben sich in Hotels oder an abgelegenen Plätzen. Doch Käte kann und will das nicht länger ertragen, sie fällt bei einer Aussprache einen Entschluss, der unabdingbar ist, obwohl sie erneut schwanger ist. Für Fred gibt es allerdings noch einen schmalen Weg zurück.
„Ich weiß, daß es mir lieber ist, wenn du bei uns bist. Aber ich verstehe auch, daß du es nicht aushältst – und manchmal ist es gut, daß du nicht da bist. Ich hatte Angst vor dir, Angst vor deinem Gesicht, wenn du die Kinder schlugst, ich hatte Angst vor deiner Stimme, und ich möchte nicht, daß du so zurückkommst und alles weitergeht, wie es war, bevor du gingst. Lieber liege ich im Bett und weine, als zu wissen, daß du die Kinder schlägst, einzig und alleine, weil wir kein Geld haben. Das ist doch der Grund, nicht wahr, du schlägst die Kinder, weil wir arm sind?“ (S. 116)
»Und sagte kein einziges Wort« behandelt gleich mehrere Aspekte. Da wäre der Knacks von Antiheld Fred, der im Krieg Sachen gesehen hat, die kein Mensch gesehen haben sollte. An denen er zu knabbern hat und die er nie verarbeiten wird. Da wäre die fehlende Nachkriegszeit-Perspektive für die (repräsentativen) Bogners und die Sozialkritik. Da wären so einige an die Kirche gerichteten Vorwürfe. Böll, der sein Vermögen in diesem Roman unterstreicht, verzichtet beim Schildern dieser Beziehung auf irgendwelche Schnörkel oder Romantik. Die Tristesse überwiegt. Wie sollte es in Anbetracht der Sachlage anders sein?
[Buchausgabe: Böll, Heinrich (1963): Und sagte kein einziges Wort. Deutsche Buch-Gemeinschaft. 178 Seiten.]
Zwei Böll-Klassiker. „Die „Ansichten“ habe ich bereits drei Mal (allerdings schon Jahre her) gelesen und sollte es noch ein viertes Mal tun. Immer noch eines meiner Böll-Lieblingsromane.
Außer dass es mir Probleme bereitet hat, mich in das darin geschilderte Milieu (Verbandskatholizismus) hineinzuversetzen. Das war mir alles schon ein wenig fremd. Aber sonst natürlich ein Roman, der zum Wiederlesen einlädt.
Ich bin schwer katholisch erzogen worden und habe mich dann umso vehementer davon distanziert. Vielleicht gefällt mir der Roman deshalb so gut.
Ich habe ‚Ansichten eines Clowns‘ kurioserweise genau an dem Tag gekauft, an dem Heinrich Böll starb, wusste ich in dem Moment allerdings noch nicht und war dann Abends ziemlich geschockt, als die Nachricht von seinem Ableben in den Nachrichten kam, insofern hab ich wahrscheinlich eine besondere Beziehung zu dem Buch. Die Millieu-Studien fand ich immer herausragend bei ihm. Liegt schon lange auf einem Stapel von Büchern, die mal wieder zu lesen wären…
Hallo Gerhard,
dieser tragische Zufall bei deinem einstigen Kauf hat schon etwas Unheimliches. Verständlich, dass es da noch mal einen ganz anderen Bezug gibt.
Wahrscheinlich sind es insbesondere diese Milieu-Studien, wie du sie passend nennst, die ihn so bedeutsam machen. Ich mein, rein sprachlich gesehen, gibt es wesentlich bessere Romanciers. Lenz ordne ich z.B. über Böll ein. Aber Sprache alleine ist nicht alles!
Liebe Grüße
Ja, das hatte was unheimliches, wir brauchten als Schulstoff einen deutschen Roman, weil wir da für das nächste Jahr was vorbereiten mussten, dachte mir, nimmste den Böll, wollte ich eh schon lange lesen und dann kam abends die Nachricht. War schon hart. Hinsichtlich Sprache bin ich völlig bei Dir, Grass oder Thomas Mann und etliche andere waren ihm da weit voraus, hinsichtlich politischer Aussage und sozialem Engagement war Böll aber in seiner Zeit sehr vorzeigbar. Hab vor ein paar Jahren ‚Gruppenbild mit Dame‘ und ‚Haus ohne Hüter‘ gelesen, die kannte ich noch nicht, rein literarisch war’s nicht unbedingt ein Hochgenuss, aber zeitgeschichtlich hochinteressant. Viele Grüße,
Gerhard
Das fand ich gerade überraschend heute Morgen, dass hier bei dir 2 Böll-Romane auftauchen(weil er schon so vergessen ist?), aber es ist ein freudiges Wiedersehen. Und beredt und kritisch bis wohlwollend, wie ich finde, beschreibst du die zwei Bücher. Es war vielleicht nicht immer die große sprach-stilistische Offenbarung, was wir von Heinrich Böll in seinen Texten erhielten. Aber innere und äußere Stimmungen, Zeitgeist, würde man heute sagen, fing er doch sehr gut ein, vom Menschlichen im Alltäglichen her. Und immer präsent seine Unruhe vor den Befindlichkeiten der Gesellschaft. (z.B.der Kirche, wie du erwähnt hast). „Und sagte kein einziges Wort“ hatte ich noch nicht gelesen, das wird ein Sommertext dieses Jahr.
Danke fürs Erinnern und Auffrischen.
Beste Grüße
HS
Hallo Herbert,
etwas vergessen worden, ist er vielleicht schon im Gegensatz zu anderen bedeutenden, bereits verstorbenen deutschen Autoren. Das war auch jüngst zumindest der Tenor, als sich sein 30. Todestag jährte und einige Böll-Artikel erschienen sind.
Wunderbar formuliert! Das trifft es ziemlich gut, kann dir nur zustimmen.
„Und sagte kein einziges Wort“ lohnt sich wirklich. Hat mir irgendwie auch mehr als der „Clown“ gegeben, obwohl es wesentlich unbekannter ist.
Beste Grüße zurück!
Ich habe lange nichts mehr von Böll gelesen, leider. Während des Studiums habe einige seiner Werke kennengelernt. Mir liegt Lenz etwas mehr. Allerdings ziehe ich Lenz und Böll etwas Grass und Walser vor.
Wie bereits angemerkt, das zeugt auch ein wenig davon, dass sein Name mMn immer seltener auftaucht. „Gruppenbild mit Dame“, was ja sein bestes Werk sein soll, hab ich mir zudem für demnächst mal vorgenommen.
Hm. jeder, von den paar Lesern, die er noch hat, hat vermutlich andere Vorlieben.
Ich finde einige seiner Kurzgeschichten sehr genial, merke mir nur immer die Titel nicht. vor allem wenn es um die Kollateralschäden kurz nach dem Krieg geht:
Unglückselige Heimkehr in eine fremd zivile Welt, Gemüsehändler mit Bombennacht-Trauma, der noch jahrelang mit seiner toten Tochter spricht, Heimkehrer, der der Freundin eines gefallenen Kameraden die traurige Nachricht überbringen will und gerade ihr Fremdgehen mitansehen muss…
Die „Ansichten“ hab ich zu DDR Zeiten gelesen, die galten in den 70ern als Kult in Ost und West. Ich war begeistert, aber hängen blieb auf lange Sicht nicht viel, eher ein paar Szenen aus der Verfilmung.
„Haus ohne Hüter“ und
„Wo warst du Adam?“ halte ich für seine besten Werke. Vor allem letzteres, weil es als Episodenroman eine Art „Fortsetzung“ von Remarques „Im Westen nichts neues“ ist: Sinnloses Sterben hier nun im II.Weltkrieg…sogar noch auf der Türschwelle zu Hause am letzten Tag des Krieges unter der weißen Fahne – sehr sehr stark.
Die Kurzgeschichten kenne ich überhaupt nicht. Auch „Haus ohne Hüter“ und „Wo warst du, Adam?“ wurden noch nicht aufgeschlagen. Notiert. Festgehalten. Für die Zukunft. Merci!
Tja, der Böll steht im Regal, damals angeschafft, damals gelesen und wirkt jetzt wie aus der Zeit gefallen.
Das bestätigt die These, dass Böll nicht zeitlos ist. 😉