Siegfried Lenz – Deutschstunde

Sicherlich ähneln die Taten zur Zeit des Nationalsozialismus – zum Teil – einem Dominoeffekt. Die Ideologie wurde dem Volk eingetrichtert, durch Gehirnwäsche und Manipulation. Viele Steine fielen um und rissen weitere mit sich. Ob von der Politik überzeugt oder nicht, heißt es häufig, es gab kaum einen Ausweg, eine andere Denkweise wurde nicht geduldet. Man musste sich anschließen, fügen, wurde ansonsten selbst ausgeschlossen und bestraft – Diktatur eben und das soll niemals verteidigend klingen, die vielen Morde rechtfertigen! Der im vergangenen Jahr verstorbene Siegfried Lenz (*1926 – †2014) greift diese Situation in seinem bekanntesten Werk, einem der wichtigsten der Nachkriegsliteratur, »Deutschstunde«, auf. Was bedeutete die Pflicht, wie wurde sie ausgelegt und befreite sie von der Schuld?

Siegfried Lenz - Deutschstunde»Die Freuden der Pflicht« heißt der Titel der Strafarbeit, die Siggi Jepsen, in einer Hamburger Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche sitzend, anfertigen wird. Siggi steigert sich dermaßen in diesen Aufsatz hinein, dass er fast Tag und Nacht schreibt, kaum noch aufhören kann. Darin schildert er in Rückblicken sein Leben im schleswig-holsteinischen Dorf Rugbüll, aber vor allem auch das seiner Familie und die Gründe für die Inhaftierung.

Sein Vater Jens Ole Jepsen, der nördlichste Polizeiposten Deutschlands, mit schlecht sitzenden Hosen ausgestattet, bekommt 1943 den Befehl von ganz oben aufgetragen, den expressionistischen Maler Max Ludwig Nansen zu überwachen: Dieser soll keine Bilder mehr anfertigen. Der Künstler rettete ihn einst vor dem Ertrinken, seitdem pflegen sie eigentlich eine Freundschaft. Doch Vorschrift ist Vorschrift. Obwohl der Polizist stets betont, dass er das Malverbot nicht beschlossen habe, muss er diese Anweisung durchführen, meint er.

Ich hab mir das alles nicht ausgedacht, Max, das kannst du mir glauben. Mit dem Berufsverbot habe ich nichts zu tun, ich habe das alles nur zu überbringen. Ich weiß, sagte der Maler, und dann: Diese Wahnsinnigen, als ob sie nicht wüßten, daß das unmöglich ist: Malverbot. Sie können vielleicht viel tun mit ihren Mitteln, sie können allerhand verhindern, mag sein, aber nicht dies: daß einer aufhört zu malen. Das haben schon andere versucht, lange vor ihnen. Sie brauchen das nur nachzulesen: gegen unerwünschte Bilder hat es noch nie einen Schutz gegeben, nicht durch Verbannen, auch nicht durch Blendung, und wenn sie Hände abhacken ließen, hat man eben mit dem Mund gemalt. Diese Narren, als ob sie nicht wüßten, daß es auch unsichtbare Bilder gibt. (S. 34-35)

Entsprechend kommt es zur Eskalation. Nansen weigert sich, malt heimlich oder lässt die Fantasie gewähren. Leere Bilder entstehen, der Polizist fühlt, dass seine Autorität untergraben wird und drängt dazu, den Maler mit aller Macht an den Pranger zu stellen. Siggi befindet sich derweil anfangs zwischen den Stühlen, positioniert sich dann aber und schließt sich dem Maler, eine Art Ziehvater, an. Er versteckt seine Bilder und auch als der 2. Weltkrieg vorbei ist, hat er weiterhin Angst davor, dass Nansens Werke, obwohl ein Verbot nicht mehr greift, vernichtet werden. Siggi wird zum Kunstdieb und soll durch die Haft rehabilitiert werden. Der zweite Erzählstrang siedelt sich auch dort an.

Im Grunde genommen ist der Polizist ein kleiner Fisch, der sich auf sein altes Fahrrad schwingt, um in seiner Gegend, in der wenig vom Krieg zu bemerken ist, nach dem Rechten zu schauen. Er ist mehr ein ausführender, einfach gestrickter Mensch, ein Mitläufer, der der Gewalt des Staates nicht ausweichen will und sich gerne unterordnet. An dem, was die in der Hierarchie über ihn Stehenden beschließen, gibt es für Jepsen wenig zu rütteln, sondern zu akzeptieren und umzusetzen. Ordnung und Regeln müssen sein, danach richtet sich das Leben des Vorstadtbullen. Selbst der ältere Sohn Klaas wird verstoßen, hat er sich doch selbst verstümmelt, um aus dem Kriegsdienst entlassen zu werden und eine Tat begangen, die gesetzlich nicht entschuldigt werden kann. Dabei ist Jepsen, anders als seine Frau, nicht ein klassischer Nazi, der hinter der Ideologie steht, sondern jemand der sich durch die Pflichterfüllung definiert. Schuldig oder nicht schuldig?, das ist hier die Frage.

Siggi ist derjenige, der das ausbaden darf, was sein Vater veranstaltet hat. »Na gut, dann werde ich Ihnen sagen, warum ich auf der Insel bin. Weil keiner sich traut, dem Polizeiposten Rugbüll, eine Entziehungskur zu verordnen; der darf süchtig bleiben und süchtig seine verdammte Pflicht tun.« Eigentlich handelte er moralisch und ist bereits als Kind vom Geisteszustand höher als der fanatische Polizist einzuordnen. Weil er abwägen kann, eigene Entscheidungen trifft und eigenständig denkt, irgendwann aber Wahnvorstellungen in ihm reifen – der Vater wird zum Gegner und durch ihn manifestiert sich ein Trauma.

Genügend Zeit für die »Deutschstunde« sollte man sich schon nehmen. Stellenweise könnte der Roman etwas langatmig erscheinen, wenn Lenz von dem ursprünglichen Plot abweicht und sich in Naturbeschreibungen vertieft, die wiederum oft metaphorisch betrachtet werden können. Die Elbe, auf die Siggi während seiner Strafarbeit blickt, die Küste und Tiere im fiktiven Rugbüll. Das wirkt manchmal, als ob Lenz sich nicht aufs Wesentliche konzentriert, was andererseits dennoch den Stil faszinierend macht.

Mit einem literarischen Seismografen verdeutlicht Siegfried Lenz die Nachbeben des Nationalsozialismus, sprachlich brillant und versiert erzählt. Mit Siggi Jepsen hat er eine Figur erschaffen, die die seelischen Erschütterungen einer Generation vereint. Wenn Lenz großes Werk nie, wie bei mir, Thema einer Deutschstunde war, fordere ich zum Nachsitzen auf. Denn nie war dies lehrreicher.

[Buchinformationen: Lenz, Siegfried (2014/1968): Deutschstunde. Hoffmann und Campe Verlag. 464 Seiten. ISBN: 978-3-455-40502-6]

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7 thoughts on “Siegfried Lenz – Deutschstunde

  1. Das ging mir ähnlich, ich habe es nicht in der Schule gelesen, sondern erst vor ein paar Jahren. Aber ich war sehr beeindruckt und hoffe, dieser Roman findet nach wie vor viele Leser und wird in möglichst vielen Schulen gelesen. Danke für die schöne Rezension und frohe Ostertage!

    • Hm, ich fürchte allerdings, dass er fast zu lang und ausgeschmückt ist, als dass er wirklich zur Schullektüre dienen kann. Vielleicht dann eher eine seiner Novellen wie „Schweigeminute“. „Heimatmuseum“ steht ebenfalls auf meiner Liste und freue mich nach der „Deutschstunde“ unheimlich darauf. Dir wünsche ich natürlich auch frohe Oster- und erholsame Feiertage! 🙂

  2. Lenz zählt zu meinen Lieblingsautoren, dieses Buch zu seinen großen Werken. Ich mag ihn mehr als Grass oder Walser. Er war der Stille, der kaum in der Öffentlichkeit stand, der mehr durch sein Bücher erzählte. Schade, dass ich ihn nicht mehr während einer Lesung einmal sehen kann.

    • Schade auch, dass er kurz vor seinem Tod noch als Antisemit diffamiert werden sollte: Lenz soll sich bei der Figur Nansen an der Biografie von Emil Nolde orientiert haben und dieser war bekanntlich ein Nationalsozialist. Fand ich total an den Haaren herbeigezogen. Auch das Urteil von Reich-Ranicki, der ihn mehr für seine kürzeren Werke schätzte und ihn als Sprinter sah, hat er mMn mit der „Deutschstunde“ widerlegt.

  3. Eines meiner absoluten Lieblingsbücher. Habe ganz kurz gedacht, wehe er hat ihn verrissen – aber dann hab ich Dir einfach nur noch vertraut 😉
    Schöne Rezension – geniesse die Feiertage.

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