Der Beschluss, von der Europäischen Union Abstand zu nehmen und das Assoziierungsabkommen nicht zu unterzeichnen, löste in der Ukraine eine Welle des Protests aus. Wieder einmal war der umstrittene Präsident Wiktor Janukowytsch ins Visier geraten und sollte nun endlich gestürzt werden. Auf dem Kiewer Maidan-Platz formierten sich die Bürger, die endlich auf das Ende der Amtszeit von Janukowytsch pochten, der ein Scherbenhaufen hinterlassen hat und für eine fast abzusehende Staatspleite durch seine Willkür verantwortlich war. Doch die Revolution, die auch durch den Euromaidan eingeleitet wurde und seine Opfer forderte, brachte kein Happy End. In der Ostukraine wird weiter gekämpft, – mittlerweile ist ein Krieg entstanden, der die ganze Welt betrifft. Erschreckend sind deswegen auch die Befürchtungen, die Andrej Kurkow in »Ukrainisches Tagebuch« formuliert, da sie tatsächlich eingetroffen sind. Der Autor von grandiosen Büchern wie »Picknick auf dem Eis« erlebte den Ausbruch der Konflikte hautnah mit, hatte er doch unmittelbar neben dem Maidan-Platz seinen Wohnsitz. Auszüge aus seinem Tagebuch schildern, wie der ethnische Russe und Bürger der Ukraine mitten in einem »historischen Tornado« stand und liefern durch den persönlichen Touch eine besondere Chronik der Ereignisse.
Die großen Demonstrationen auf dem Maidan-Platz beginnen und just sieht sich die Staatsmacht angegriffen und reagiert. Aggressiv versucht sie, sich zu verteidigen und holt brutal zum Gegenschlag aus. Janukowytsch und seine »Partei der Regionen« heuern Tituschki, junge Kampfsportler, an, die Geld dafür erlangen, Schlägereien anzuzetteln und die prodemokratischen Kundgebungsteilnehmer zu provozieren. Geheime Streitkräfte feuern zudem und töten, während einige aus der Menge Molotowcocktails werfen und Radikale sich Gefechte mit den Sondereinsatzkommandos liefern. Es kommt zu Entführungen und anschließenden Folterungen. Janukowytsch dagegen versteckt sich und wird dann seinen Kräften beraubt, während eine anarchistische Stimmung herrscht, Banditen sich als Aktivisten ausgeben und rauben. Kurkow gewinnt all diese Eindrücke, indem er selbst auf den Euromaidan geht, durch Reisen, Gespräche mit Bekannten oder durch die Medien, deren Berichte er stets kritisch kommentiert.
Wie soll ich jetzt an meinem Roman über Litauen und die Litauer weiterarbeiten, wenn fünf Minuten Fußweg entfernt von der Wohnung, in der ich arbeite, wo ich in diesem Moment am Computer sitze, die Miliz sich eine Schlacht mit der Bevölkerung liefert, mit radikalen Romantikern, die ohnehin nicht in der Lage wären, die Berkut zu besiegen – und selbst wenn sie siegen würden, was wäre dann zu tun? (S. 83)
Kurkow positioniert sich in seinen Aufzeichnungen recht deutlich – für die Demokratie und gegen Wladmir Putin. »Seine Stütze sind die, die noch nie in Europa waren und nicht das Internet nutzen. Die, die nur das Fernsehen haben.« Die Annexion der Halbinsel Krim und den Zwang, dem die Ukrainer ausgesetzt sind, da sie die russische Staatsangehörigkeit ohne eine weitere Option annehmen müssen, nimmt er ihm übel und wirft Putin vor, einen Wiederaufbau der Sowjetunion anzustreben. Für ihn sei die »Politik der guten Nachbarschaft« nach dem Sturz von Janukowytsch abgeschlossen.
Obwohl – ist ein normales, von der Korruption befreites Land nicht der beste Dank für jeden normalen Bürger? Aber genau das ist ja das Problem, dass der Kampf der normalen Bürger radikalisiert, und radikal gewordene Bürger sind wohl kaum normal und auch nicht voll zurechnungsfähig. Eine gewisse Zeit muss vergehen. Das Land braucht Ruhe, wie ein Kranker, der genesen muss. Nur gibt es diese Ruhe bislang nicht, weil gleich neben das von Putin geführte und von der „Eurorevolution“ beunruhigte Russland sitzt. Putin wird alles tun, um dem russischen Volk zu beweisen, dass sich ein Machtwechsel nicht durch Revolutionen herbeiführen lässt. Was wiederum heißt, dass der Ukraine künftig noch massenhafte Probleme ins Haus stehen, die sehr schwer zu lösen sein werden. (S. 156)
Diese Erschwernisse treten dann tatsächlich auf, da Russland in der Ostukraine (bekanntlich) interveniert. Zwar beginnt das Buch im November ’13 und endet mit den Einträgen Ende April ’14, also kurz vor den ukrainischen Präsidentschaftswahlen im Mai, doch die Zweifel, die Kurkow bereits im März formuliert, sind berechtigt.
An einen eventuellen Krieg möchte ich am liebsten gar nicht denken, aber es hat noch keinen Tag gegeben, an dem mir nicht von selbst der Gedanke daran gekommen wäre. Nicht einmal der Frühling, der inzwischen begonnen hat, die Sonne, die den Boden wärmt, und die Blumen, die über Nacht erblüht sind, können mich von der Politik ablenken. Dabei würde ich mich so gern ablenken lassen. Und nicht nur ich. (S. 183)
Neben diesen ganzen politischen Schilderungen lässt Kurkow, dessen Buch »Die letzte Liebe des Präsidenten« in Russland nachträglich verboten wurde, auch Privates einfließen und gewährt Einblicke in den ukrainischen Kulturbetrieb, was ebenso interessant erscheint. Ansonsten sucht man vergebens – dafür erscheint die Situation zu prekär – nach Stellen mit Humoranteil, für die Kurkow in seinen Romanen bekannt ist und die sehr unterhaltsam sein können.
Ein Ende des Ukraine Konflikts ist momentan nicht in Sicht. Angesichts der fortschreitenden Vorkommnisse wäre es überaus informativ, wenn Kurkow seine Tagebücher, die er seit 30 Jahren verfasst und die bisher nie für die breite Masse bestimmt waren, darüber hinaus weiter öffnen und zusätzlich veröffentlichen würde, um ein noch umfassenderes Bild der Ereignisse nach der Revolution aus seiner Ansicht zu erhalten. Wer die Auseinandersetzungen in der Ukraine (oberflächlich) verfolgt, sollte unbedingt einen Blick in das »Ukrainische Tagebuch« werfen, um dieses ganze prorussische Wirrwarr ansatzweise zu durchblicken und die Spaltungen zu begreifen.
[Buchinformationen: Kurkow, Andrej (Mai 2014): Ukrainisches Tagebuch. Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests. Haymon Verlag. Aus dem Russischen von Steffen Beilich. 280 Seiten. ISBN: 978-3-7099-7154-3]
Was für ein Zufall, das Buch habe ich mir vor zwei Tagen auch gekauft und freue mich schon aufs Lesen. Ich bin gespannt, wie Kurkow die Haltung der Ukrainer und der Protest-Teilnehmer darstellt und bewertet. Danke für die Rezension!
Dann wünsche ich dir viel Spaß beim Lesen und bin ebenfalls gespannt darauf, was du zu diesem Buch zu sagen hast 🙂
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