Rotlicht. Das hat etwas Abstoßendes, Unkirchliches, Unmoralisches, Dreckiges, Sittenunwürdiges, Menschenverachtendes, Sklaven- und Zwanghaftes. Einerseits. Andererseits handelt es sich bei Prostitution just um käufliche, vorgegaukelte Liebe, die zudem helfen soll, menschliche Triebe legal auszuleben. Clemens Meyer, bekannt geworden durch unter anderem dem viel gepriesenen Debüt »Als wir träumten« (2006), widmet sich in seinem zweiten Roman »Im Stein« – schaffte es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2013 – diesem Milieu. Handlungsorte: die neuen Bundesländer, Nachwendezeit.
Clemens Meyer, der mit den Schattenseiten der Gesellschaft eine Nische gefunden hat, nimmt in seinem Epos keine Rücksicht. Rücksicht vor Sensibelchen, denen sich an manchen Stellen die Fußnägel kräuseln würden. Es geht um harte, anormale Sexpraktiken. Um Machenschaften von Personen und Luden wie Arnold Kraushaar (AK), Hans Pieszeck oder dem Bielefelder (der Graf), die Zuhälter, Unternehmer und Kriminelle zugleich sind. Meyer zieht dabei keine Figur heraus und lässt sie durchdringend durch den Roman laufen. Vielmehr versammelt er Stimmen von zum Beispiel Prostituierten, einem ehemaligen Jockey, der vergeblich im Sumpf nach seiner Tochter sucht, einem ermittelnden Kriminalpolizisten oder Ecki, der im Webradio Damen empfiehlt.
Die Ariella hat scheinbar Kiemen, so tief nimmt diese Meerjungfrau den Aal in den Mund und nuckelt euch in einen samenlosen Schlaf. […] Wer tiefer noch in die Mundfotze ficken will, der wird woanders fündig, dazu gleich, ihr Freunde des gepflegten Deep Throat, aber ich kann und will nicht aufhören, die rassige Ariella zu rühmen und zu loben, denn sie küsst auch und zeigt euch, wie euer Schwanz schmeckt, denn sie bläst natürlich ohne, will aber keinen Schuss in ihrem süßen Mund. […] Ich habe sie beide getestet, in den Hals spritzen darf man Aruscha allerdings nicht, sie gurgelt zwar schön, wenn sie euren Aal verschlingt, spürt aber ganz genau, wenn euch der Saft kommt beziehungsweise wenn er langsam aus den Eiern nach oben wandert, unbezahlbar dieses Nachtlied im Abendkleid, all inklusive nimmt sich allerdings einen HuFu für die Stunde, dafür darf man ihr auch das süße, etwas rundliche Gesichtchen besamen. Geil, geil. (S. 180/181)
Vielschichtig ist »Im Stein« durchaus. Es beherbergt mit seiner dokumentarischen Form Glaubwürdigkeit en masse. Man kauft Meyer ab, dass er Herzblut in dieses Buch steckte und dafür große Recherchearbeit notwendig war. Die Charaktere samt ihrer Eigenschaften wirken tatsächlich so, als ob sie real sein könnten. So als ob sie aus erster Hand erzählen und dem Leser an ihren Schicksalen teilhaben lassen wollen.
Ich wache auf. Und ich sage, dass wir los müssen, dass die Musik beginnt und ich spüre dann, dass ich immer noch nicht ganz da bin, meine Hand kraftlos auf ihrer Schulter, und dass ich gleich wieder in den Traum zurücksinken kann, mein Sohn, das Bettlaken voll Blut, das Kissen voll Blut, was tue ich nur?, spielt es keine Rolle, was ich tue? Lass sie in Ruhe, Sohn! In diesen Zeiten. Zu verschwinden, nach all den Jahren. Oder: Jetzt erst recht. Die Dispute nehmen zu, aber ich bin noch da. Der Alte geht nicht, oh nein, der Alte kämpft. Setzt ein Zeichen, als er einen der frisch geborenen Engel weghaut, den er seit Jahren kennt, aber der die Territorien und Aufgabenverteilung nicht akzeptieren will, die neue starke Macht im Rücken, als neugeborenes Mitglied im Wartestand, Die Engel kommen in die Stadt! Hurra, sind schon da!, die er, der Alte, […] die er einst und vor nicht allzu langer Zeit auch in die Stadt einlud, Eden City, Markt der Träume. (S. 539)
Ich konnte, wollte nicht mehr. Abscheu beim Blick auf den Buchdeckel. »Im Stein« hat lange gedauert. Wurde beiseitegeschoben, versetzt und letztlich doch aus Leibeskräften zu Ende gelesen. Eine schwere Geburt! Es war nicht das Abstoßende, die Beschreibungen der Körperflüssigkeiten, die pornografischen Entgleisungen von Besamungs-Szenarien, Flatrate-Ficki-Ficki und so weiter, sondern schlichtweg die Form, die Meyer wählte.
»Im Stein« ist kein typischer Roman – typisch in Form von: Katharsis durchleben, Unterhaltungskost genießen, generierte Schockmomente, Spannung etc. Ganz im Gegenteil, es ist ein Haufen von Zusammengewürfeltem. Schnappschüsse, lose, frei schwimmende Gedanken, Retrospektiven. Immer mehr Abschweifungen, immer mehr Erzählungen. Hier noch jemand, da noch jemand. Bruchstücke. Lücken. STOPP! Aufhören mit dem Partiellen! Immer weiter nacktes Fleisch. Ungeniertes Benehmen. Japan. Steine. Transsexuelle. Kindesmissbrauch. Mord. Skrupel. Drogen. Ohnmacht. Engel. Gewalt. Moneten. Ignoranz. Schauhaus der Lüste. Sex. Sex. Sex. Ende – ohne Booom und Abspann.
Dabei lesen sich die ersten hundert Seiten so wunderbar weg. Stets mit behafteter Hoffnung, dass es doch endlich beginnen möchte, das Vorspiel vorbei sei. Fortlaufend chaotisch setzt es sich fort. Andauernd verbunden damit, es endlich wegzulegen, es doch irgendwie zu packen. Auf etwas hinzuarbeiten, um später belohnt zu werden und doch nicht belohnt worden zu sein. Umso erfreulicher, dass Meyers nächster Roman eine Novelle werden soll – mit der ich mich nolens volens nicht ganz so stark herumschlagen werde…
Clemens Meyer lässt mich zwiegespalten zurück. Eindrücke gewonnen? Ja. Großartig etwas mitgenommen? Nein. Meyer wollte mit seinem Fragmentarischen durch den Verzicht des Linearen Moderne Kunst und Avantgardismus liefern. Das Rudimentäre ist folgerichtig gewollt – nur irgendwie samt und sonders, betrüblicherweise nicht meins.
[Buchinformationen: Meyer, Clemens (August 2013): Im Stein. S. Fischer Verlag. 560 Seiten. ISBN 978-3-10-048602-8]
Lieber Muromez, ich finde es spannend auch mal eine Blog-Rezension von „Im Stein“ aus männlicher Sicht zu lesen – und stelle fest: Ich stimme mit dir in sämtlichen Punkten überein! Auch ich erkenne Meyers literarische Leistung, das Experimentelle, an, aber ich konnte über weite Strecken nichts damit anfangen…Herzlichst, Karo
Liebe Karo,
ich hatte eigentlich die Auffassung, dass Frauen deutlich schockierter sein könnten bei diesen Passagen. Bisher habe ich darüber in Besprechungen noch nicht gelesen, was mich verwundert hat. Wenn ich mir vorstelle, dass ich das einigen eher prüden Damen vorlege…
Interessant finde ich, dass die Feuilletonisten „Im Stein“ ausnahmslos loben, während die Bloggerwelt scheinbar eine deutlich mittelmäßigere Wertung übrig hat.
Grüße
Ich habe zwischendurch auch schon an meinem eigenen Verstand gezweifelt, weil in keinem Feuillton das Wort „Pornographie“ fiel – seh das nur ich so? Bin ich etwa total prüde? Deshalb tut es gut, in der Bloggerwelt auch kritischere Stimmen zu finden. Was mal wieder bestätigt, wie unabhängig und ehrlich Bloggerrezensionen sind 🙂
Besonders befremdlich fand ich die Situation, als Clemens Meyer bei der 3Sat-Kultursendung „Literatur im Foyer“ zu Gast war und im Publikum nur ältere Damen saßen, die interessiert seinen Ausführungen zu „Im Stein“ lauschten – auch da fehlte völlig der Bezug zum Vokabular in seinem Roman. Das finde ich fast „Irreführung des Lesers“. Auf CDs steht ja schließlich auch „explicit“…lg, Karo
Vielleicht, weil es sich um Kunst handeln soll und die darf ja bekanntlich alles. Vielleicht aber auch, weil es nicht so die großen Wellen geschlagen hat wie z.B. „Feuchtgebiete“ damals. Da war der mediale Aufschrei immens. Wobei ich Meyer auf keinen Fall unterstellen will, dass er Pornographie lediglich dazu benutzte, um nur deswegen ins Rampenlicht zu rücken. Das Thema Prostitution muss einfach, ich nenne es mal so, schlüpfrige Inhalte bieten, sonst schreibt man daran vorbei.
Lieber Muromez,
ich finde es spannend – mit etwas Abstand zu meiner eigenen Lektüre – deine Eindrücke zu diesem Roman zu lesen. Mir geht es so wie dir (und Karo): formal wagt Clemens Meyer sicherlich etwas und ich erkenne sowohl das literarische Experiment an, als auch die mühsame Recherche für den Roman. Stellenweise (besonders bei den weiblichen Stimmen) wirkt der Roman so authentisch, als wäre es eine Sozialstudie. Ansonsten konnte mich der Text aber leider weder berühren noch begeistern. Schade eigentlich.
Liebe Grüße
Mara
Liebe Mara,
wie ich bereits in der Kritik geschrieben habe, musste ich mich überwinden, es doch auszuhalten. Bei solchen Begebenheiten ist man am Ende stolz, es gepackt zu haben, hier war ich es nicht, war vielmehr froh darüber, mich nicht weiter damit beschäftigen zu müssen. Die weiblichen Stimmen haben mir auch am besten gefallen. Ihnen hätte ich noch länger zuhören können…
Liebe Grüße zurück!
ja, schade. ist eben wie bei Joyce. muss man sich drauf einlasse. trotzdem große literatur. wenn der konsens so wäre, wie diese blogrezensionen wäre das buch sicher nicht so erfolgreich gewesen. ich habe es sehr gerne gelesen. wie übrigens auch den jirgl. sprachkunstwerke, die einfach durchkomponiert sind.
Lieber Bert,
erst einmal vielen Dank für deinen Kommentar.
Einlassen kann man sich. Bei mir hat es mehr mit „müssen“ statt mit „wollen“ zu tun gehabt und das war das größte Problem. Ob ein Buch sich allerdings verkauft oder nicht, hat meiner Meinung nach nicht häufig damit zu tun, ob es tatsächlich Qualität beinhaltet.
Grüße
ich spreche nicht vom verkauf, sondern von der kritik, die das buch erfahren hat. eben wurde der roman bzw der autor mit dem bremer literaturpreis ausgezeichnet, und auch die kritik in den fuilletons war überwiegend gut bzw begeistert. aber Literatur empfinden ist nun mal subjektiv. aber das es sich hier um ein großes, ungewöhnliches, hoch literarisches werk handelt, sollte unbestritten sein.
Demnach wäre es aber dann ebenso subjektiv, wenn man es als „großes, ungewöhnliches, hochliterarisches Werk“ bezeichnet 😉
nein. man muss dieses buch nicht mögen, aber sein literarischer Gehalt sollte unbestritten sein. bei allen einwänden. ich habe es selten gesehen, dass ein buch solche guten bis euphorischen kritiken bekam, aber dennoch auch spaltete. ich bin mir sicher, dass dieser roman, bei aller ambivalenz, aus der deutschen gegenwartsliteratur nicht mehr wegzudenken sein wird.
und nochetwas: es stimmt einfach nicht, dass meyer keine figur durch den roman laufen lässt. ak ist die oder eine der hauptpersonen. in fast allen kapiteln taucht er auf, er ist die interessanteste Figur, sein aufstieg, sein fall, seine ambivalenz. dazu hans p., der nachtclubbesitzer, schweinehans, obwohl er gar kein schlachter ist, wie das halbe buch über behauptet wird. wie hans die diamanten weiterleiten soll, mit dem geld aussteigen will, tötet, sich verliebt, unter die Räder kommt, ist mmn der zweite große strang des buches.
wir behandeln es übrigens grad an der uni. ich glaube, dass man die vielschichtigkeit dieses werkes in den nächsten jahren entdecken wird.
Hui, das war ein hochinteressantes Werk in gelungener Multiperspektive mit seeeehr viel Mitgefühl für alle Beteiligten. Ganz, ganz große Literatur.
War ein falscher Zeitpunkt. Hat mir wenig gefallen, aber das sollte sich nach einem erneuten Lesen und mit etwas Abstand ändern.
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