Ein falscher Schritt. Ein falsches Geräusch. Eine falsche Aussage. Ein falscher Mensch. Eine falsche Intuition. Ein falscher Instinkt.
Das Kartenhaus des jüdisch-polnischen Musikers, Pianisten und Komponisten Władysław Szpilman wäre eingestürzt. Es sind so viele Komponenten, die zusammenkommen und im besetzten Wahrschau Szpilmans Leben sicherten. Schier unglaublich, wahrhaftig ein Wunder, dass er die Gunst des Schicksals so beeindruckend erlangte – stets mit einem Bein im Grab.
Władysław Szpilman, mit reichlich Talent gesegnet, arbeitet als Pianist für den Polnischen Rundfunk, als 1939 die Deutschen die Stadt an der Weichsel einnehmen wollen und sie unter Artilleriebeschuss stellen. Die Einwohner strotzen jedoch auch dann noch vor Optimismus, als Warschau übernommen wird, ständig in der Hoffnung, dass schon bald die Alliierten sie aus der misslichen Lage befreien.
Die Nazis plündern, gehen auf Menschenjagd, verordnen Armbinden für Juden, drohen mit Repressionen und Arbeitslager, ziehen Mauern und schließen die jüdische Gemeinschaft in ein Getto ein.
Vom 1. bis 5. Dezember hätten sich die Juden mit weißen Armbinden zu versorgen, auf die ein hellblauer Davidstern genäht war. Wir sollten also gebrandmarkt werden, öffentlich für vogelfrei gelten. Ein paar Jahrhunderte Fortschritt im humanitären Denken der Menschheit sollten durchgestrichen werden und das Mittelalter neuen Einzug haben. (S. 41)
Mit eingezogenem Kopf geht die Welt im Getto weiter. Jüdische Polizisten malträtieren die Abgegrenzten genau wie die feigen Nazis. Szpilman spielt in Bars und Restaurants, verdient so den Broterwerb für seine Familie. Man schwört sich, zusammenzuhalten und komme was wolle, nie auseinander zu gehen. Ein Plan, der nicht aufgehen kann, spätestens als die Nazis den Abtransport der Juden in Arbeitslager verordnen, und in Scherben zerbricht. Szpilman sitzt bereits mit seinen Liebsten im Waggon. Ein Polizist erkennt den Musiker, zieht ihn widerwillig heraus, rettet ihm das Leben, entzieht ihn aber den Angehörigen, die er nie wieder sehen wird.
Ich wandte mich und wankte, laut weinend, mitten auf der menschenleeren Straße einher, verfolgt von dem immer leiser werdenden Schrei der in den Waggons Eingeschlossenen, der wie das Piepsen in Käfigen zusammengepferchter Vögel in der Todesnot klang. (S. 104)
Fortan arbeitet Szpilman für die Nazis auf dem Bau und schafft es irgendwann aus dem Getto zu fliehen, bevor noch ein Untergrund-Widerstand erfolgt. Bekannte verstecken ihn, stets im Hinterkopf, dass sie dafür ebenso erschossen werden können, und ernähren ihn, bis die Stadt ausstirbt. Szpilman in Lumpen eingehüllt, ständig nach Essensresten suchend, verbirgt sich. Durch Zufall und dem Glück auf seiner Seite, aber von Suizidgedanken geplagt, rappelt er sich immer wieder auf.
Als dann der SS-Offizier Wilm Hosenfeld ihn findet, scheint es, dass sein Schicksal endgültig besiegelt ist. Doch er trifft auf einen engelsgleichen Mann, der den Hintergrund der NS-Ideologie begriffen hat, sich stark davon distanziert und der Tyrannei voller Fremdscham am liebsten ein Ende bereiten würde (Hosenfeld Tagebucheinträge sind im Buch enthalten) und ihn auffordert das Klavier zu betätigen. Durch Hosenfelds Schutz und Hilfe übersteht Szpilman seine prekäre Lage. Dann marschiert die Rote Armee ein.
Als ich die Finger auf die Klaviatur legte, zitterten sie. Diesmal hatte ich also zur Abwechslung mein Leben mit Klavierspiel zu erkaufen. Ich hatte zweieinhalb Jahre nicht geübt, meine Finger waren steif, mit einer dicken Schmutzschicht bedeckt, die Fingernägel ungeschnitten seit dem Brand des Hauses, in dem ich mich versteckt hielt. Dazu stand das Klavier in einem Zimmer ohne Fensterscheiben, so dass der Mechanismus vor Feuchtigkeit aufgequollen war und auf den Tastendruck widerspenstig reagierte.
Ich spielte Chopins Nocturne cis-Moll. Der gläserne, klirrende Ton, den die verstimmten Saiten hervorbrachten, hallte in der leeren Wohnung und im Treppenhaus wider, flog auf die andere Straßenseite durch die Ruinen der Villa und kehrte als gedämpftes, wehmütiges Echo zurück. Als ich geendet hatte, schien die Stille noch dumpfer und gespenstischer. In einer Straße miaute eine Katze, ein Schuss war unten vor dem Haus zu hören – raues deutsches Getöse. (S. 173)
Der Unmenschlichkeit ausgeliefert, trieb ihn ein animalischer Drang an, irgendwie doch noch zu entkommen von dem Ungeheuer. Regelrecht nüchtern schildert Szpilman diesen, kurz nach der Befreiung verfasst, ohne detaillierte Beschreibungen der anderen Misshandelten in schaulustiger Form. Und im Hinterkopf bewahrend, dass auch die geliebte Musik ihren Teil zu seinem Überleben beitrug.
Wie Andrzej Szpilman, der Sohn Władysławs, im Vorwort bemerkt, hielt der Vater sein Manuskript gar nicht so sehr für die Allgemeinheit fest, sondern mehr für sich selbst: „Es half ihm, die erschütternden Erlebnisse aus der Zeit des Krieges so zu verarbeiten, dass er den Kopf und das Herz frei hatte für das Weiterleben.“ Gut, dass es doch noch an die Öffentlichkeit geraten ist, denn sonst würde es auch Roman Polańskis grandiose Verfilmung nicht geben, die ich, leider Gottes, vor dem Lesen bereits sah, mich schwarz ärgerte, dass es nicht andersherum lief, da mir dadurch doch viel Fantasie genommen wurde.
Szpilmans Überleben erscheint unwirklich. Es ist genauso wenig zu fassen und schwer zu begreifen, wie der damalige Hochverrat an die menschliche Existenz und die Perversion. Ein unausrottbares Zeitdokument, das auch im nächsten Jahrhundert rezipiert werden sollte. Damit bloß nichts in Vergessenheit gerät, Fehler nicht wiederholt werden und stets erinnert wird, wozu irdische Geschöpfe fähig sind.