Was wie ein typischer, durchschnittlicher Coming-of-Age-Roman klingt, hat mir ein paar unterhaltsame Stunden beschert. In ihrem Debüt schreibt Wlada Kolosowa über zwei Teenager-Freundinnen, ihre Sehnsüchte und ersten sexuellen Erfahrungen miteinander. Lena zieht es zum Modeln nach China, Oksana bleibt in einer trostlosen Vorstadt von Sankt Petersburg zurück. Die Autorin springt in den Kapiteln zwischen China und Russland und bringt ihre Protagonisten dann wieder zusammen. Mir imponierten vor allem diverse Einfälle, da gibt es einige. Zum Beispiel beginnt Oksana aus Wut und Verzweiflung eine Diät. Sie darf nur das essen, was die Menschen während der Leningrader Blockade zu sich genommen haben. Das Verlagsimprint Ullstein fünf sollte man längt auf dem Zettel haben, auch wegen Büchern wie »Fliegende Hunde«.
[Buchinformationen: Kolosowa, Wlada (März 2018): Fliegende Hunde. Ullstein fünf. 224 Seiten. ISBN-13 9783961010066]
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Im Oktober 2006 wird Anna Politkowskaja im Aufzug ihres Wohnhauses in Moskau von Unbekannten erschossen. Die Journalistin gilt als unbequem – ihre Reportagen in diesem Buch zeigen, warum. Politkowskaja ist im Zweiten Tschetschenienkrieg (1999 – 2009) vor Ort, kämpft nicht mit Waffen, sondern mit Worten gegen die Hirnwäsche, Kriegspropaganda und Lügen. Sie schreibt über Säuberungen, Menschenraub, Sklavenhandel mit Verhafteten, Freikäufe von Leichen und den Rachedurst. »Russland etabliert auf seinem Territorium eine Enklave der zivilen Rechtlosigkeit«, hält sie fest. Für viele sei der Krieg lukrativ, weil Generäle vom Militärbudget profitieren und andere sich am illegalen Öl- und Waffengeschäft beteiligen. Der Konflikt sorge dafür, dass dem Terrorismus weitere Kräfte zugeführt werden, neuen Widerstand zu entfachen. Mit den Menschenrechtsverletzungen, die die russischen Militärs begehen, werde der Hass geschürt, »den Wunsch nach blutiger Vergeltung zu wecken«. Politkowskajas Reportagen lohnen sich, weil sie mutig sind und den Tschetschenienkrieg aus eine ganz anderen Perspektive betrachten.
[Buchinformationen: Politkowskaja, Anna (2003): Tschetschenien – Die Wahrheit über den Krieg. DuMont Verlag. Aus dem Russischen von Hannelore Umbreit und Ulrike Zemme. 336 Seiten. ISBN: 9783832178321]
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Hin und wieder stehe ich total auf diese Geschichten über Gangster. Ich mag Mario Puzos »Paten« oder Dennis Lehanes »In der Nacht«, auch Filme wie »Scarface«, »Goodfellas« oder »Departed«. Das Komische an diesen Werken ist eigentlich immer, dass man Sympathie für Kriminelle verspürt, die über Leichen gehen und Dreck am Stecken haben. Bei »Der Boxer« vom gefeierten polnischen Autor Szczepan Twardoch sieht das ähnlich aus. Wir bekommen es mit einem jüdischen Kampfsportler zu tun, der ohne Skrupel für einen Ganoven in Warschau im Jahr 1937 arbeitet, Menschen abmurkst und in der Unterwelt respektive im Rotlichtmilieu agiert. Sein Motto lautet: »Gewalt säen und Gewalt ernten.« Rund um diese Exzesse, Muskelspiele und Orgien sorgt auch die historische Komponente dafür, dass dieses Werk zu empfehlen ist. Twardoch beschreibt in diesem Thriller, wie die Rechten und Faschisten mächtiger werden und die (Zion-)Linken bekämpfen. »Du steckst einen Schlag ein, gibst zurück, isst und wirst gefressen.« Ein Tipp.
[Buchinformationen: Twardoch, Szczepan (Januar 2018): Der Boxer. Rowohlt Berlin. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. 464 Seiten. ISBN: 978-3-7371-0008-3]
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Wie produzieren Verlage und Autoren Bestseller? Es gab Versuche, die Formel für den Erfolg zu entschlüsseln. Vergeblich, auch ich weiß nicht, wie das genau funktioniert, sonst wäre ich reich. Jörg Magenau beschäftigt sich in seinem Buch kurzweilig mit ebendiesen Bestsellern. Er pickt diverse Titel raus und erklärt, warum sie mit welchen Merkmalen für Furore sorgten. Kinder und Außenseiter mit sinnlich-übersinnlichen Fähigkeiten gehen hin und wieder, beispielsweise Momo, Alice im Wunderland, Harry Potter. Hitler und Sex gehen meist auch oder Werke von Personen wie Hape Kerkeling, die häufig im Fernsehen auftauchen. Fakt ist: Der Status Bestseller steht nicht automatisch für Qualität. Auch die Verkaufszahlen sind nicht identisch mit den Leserzahlen. Bestseller werden gerne verschenkt, aber ob sie wirklich gelesen werden? Magenau bewegt sich auf keinem literaturwissenschaftlichen Level – in seinem Buch kann man allerdings gerne mal rumblättern.
[Buchinformationen: Magenau, Jörg (Februar 2018): Bestseller. Bücher, die wir liebten – und was sie über uns verraten. Hoffmann und Campe. 288 Seiten. ISBN: 978-3-455-50379-1]
Wobei „Der Boxer“ kein klassischer Thriller ist. Aber ein exzellenter Roman.
Jörg Magenaus „Bestseller“ liegt auch auf meinem SuB. Vor ca. 4 Wochen habe ich ein Interview (SWR1 Leute) gehört. Der Autor klang sehr sympathisch aber mit dem Buch, das thematisch klug klingt, werde ich nicht warm. Viel Spaß beim Lesen.
Lieber Ilja,
dein Blog ist fur mich immer wieder Anlaufstelle für osteuropäische/russische Literatur, sowohl Gegenwärtiges, als auch Wiederentdecktes. Nun wollte ich dich fragen, ob du vielleicht „Die Heimkehrer“ von Sana Krasikov kennst. Die Story würde mich sehr interessieren, aber über die Sprache/Umsetzung habe ich Widersprüchliches gelesen und wollte dich fragen, wie du den Roman fandest, sofern du ihn kennst. Vielen Dank.
Viele Grüße und danke für die tolle Auswahl, die du immer wieder vorstellst!
Katharina
Hallo Katharina,
den „Heimkehrer“ von Sana Krasikov habe ich bisher nicht gelesen. Deswegen kann ich wenig dazu sagen. 🙂 Danke für deine nette Worte.
Viele Grüße zurück
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