Keine Hemden, keine Schuhe, lautet eine Regel des »Fight Club«. Im elitären »Club der Buchstabenmörder« dürfen diese die Erscheinung noch prägen. Dafür aber die ausgesprochenen und vorgestellten literarischen Geistesblitze nicht aufgeschrieben werden. Sigismund Krzyżanowski (*1887 – †1950), in Kiew geboren, in Moskau gestorben, musste Zeit seines Lebens eine literarische Nichtexistenz aufgrund des Regimes erfahren, beweist sich in diesem Roman als heller Geist, der anders als seine Protagonisten eine Fülle an enormen Ideen niederlegt, die großartige Literatur ergeben.
Jeden Samstag trifft sich diese Bruderschaft. Jedes Mal darf ein Anderer vortragen. Die Teilnehmer werden nur mit ausgewählten Silben angesprochen, es bleibt anonym. Dennoch versteckt sich eine Intention hinter diesem eigenartigen Prozedere. Die »erlesensten Phantasmen und die ungeheuerlichsten Erfindungen« sollen »fern von den Blicken der Menschen wachsen und blühen.« Schließlich begegnen sie diesen Entfaltungen mit zu wenig Respekt, als dass sie einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten. Nach jedem Vortrag erfolgt eine kurze Analyse, die meist in Verrissen endet. Denn Sujets werfen »Streits ab wie Pflanzen Sporen: in dem Raum, in dem sie keimen.«
Haben Sie gehört, wie die sogenannten Karakul- oder Breitschanz-Pelze hergestellt werden? Die Lieferanten dieser Art von Pelz haben dafür ihre eigene Terminologie: Sie warten den Zeitpunkt ab, bis die Locken des ungeborenen Lämmchens das passende Muster und die richtige Dicke haben, und töten das Lamm – vor der Geburt: Das nennen sie das ›Muster fixieren‹. Wir machen das Gleiche – mit Ideen: Wir sind Räuber und Mörder. (S. 14-15)
Es sind einige sonderbare Geschichten, die erzählt werden und die der Erzähler, der in diesen Kreis eingeschleust wird, wiedergibt. Ein Darsteller von Shakespeares »Hamlet«, Stern, trifft seine Rolle in menschlichem Antlitz, neben anderen Rollen, die verschiedene Interpretationen verkörpern, befinden sich diese in einer Parallelwelt, im »Land der Rollen«, und warten auf ihren Einsatz. Die Rolle nimmt Besitz von Stern an, dreht den Spieß um, wodurch an seinem Geisteszustand gezweifelt wird: »Warum sollte eine Rolle nicht einen Schauspieler spielen, der eine Rolle spielt[?]«
Ein Ideengeber erzählt eine Handlung voller Dystopie: Zwei Wissenschaftler haben entdeckt, wie die Psyche von den Muskeln abgekoppelt werden kann, wodurch die Menschen kontrolliert und beherrscht werden können. Anfangs findet dieses Verfahren erst bei Geisteskranken Verwendung, später wird diese globaler angewendet und ausgebreitet: »Ihre Psyche, abgeschnitten von der Außenwelt, isoliert in ihrem von den Muskeln getrennten Gehirn, ließ nicht das kleinste Zeichen von Existenz erkennen.« Es formt sich eine Diktatur, bestehend aus Immunisierten, die umgeben von maschinistischen Menschen sind, die aus ihrer Starre ausbrechen wollen, lediglich kein Signal von ihrem Hirn dazu erhalten.
In einem anderen Fall versuchen die Protagonisten Ing, Nig und Gni herauszufinden, wozu Münder gemacht wurden. Sind sie unnütze Löcher im Gesicht? Oder dienen diese zum Küssen, Essen, Schwatzen. Was ist die Hauptfunktion und warum hat der Mensch nicht gleich drei davon, damit er alle drei Aufgaben im Multitasking-Modus ausüben kann?
Als Ganzes gesehen, hätte der Autor dieses Band ebenso als lose Kurzgeschichten verkaufen können. Aber er umgeht das geschickt, bindet diese in einen geheimnisvollen Kontext ein. Erschafft einen Club, der vorgibt etwas zu sein, was er vielleicht gar nicht ist – das Austreten eines Mitglieds und sein Selbstmord deuten darauf hin, dass bei diesen Sonderlingen nicht alles glatt läuft.
Im Nachwort vergleicht Thomas Grob Sigismund Krzyżanowski mit Franz Kafka oder Jorge Luis Borges. Krzyżanowski, Kschischanowski ausgesprochen, selbst spielt mit diesen Trugbildern, die die Sinne täuschen. Er baut Illusionen, um sie hinterher wieder aufzulösen, und zu dem Thema zurückzukommen, das uns seit jeher tangiert: das Leben und der Tod. Er lädt ins 12./13. Jahrhundert ein, um Goliarden vorzustellen oder bezieht sich auf die griechische Mythologie, wenn er Fährmann Charon einführt, der einen Toten nicht mitnehmen will, weil ihm der Obolus weggenommen wurde, damit jemand Rosinen essen darf.
An einer Stelle heißt es: »Stets hält jeder jeden für jemand anderen.« Halten wir fest, dass Sigismund Krzyżanowski für jemanden gehalten werden kann, der anspruchsvolle Literatur kreiert hat, die zahlreiche philosophische Bezüge parat hat und die mit einer Vielschichtigkeit bestückt ist. Wäre das zweifelsohne geniale »Der Club der Buchstabenmörder« eine Zwiebel, müsste man sie lange tatkräftig häuten, um zum Kern zu gelangen. Darin besteht die Herausforderung. Dadurch entfaltet sich Kunst.
[Buchinformationen: Krzyżanowski, Sigismund (September 2015): Der Club der Buchstabenmörder. Dörlemann Verlag. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Titel der Originalausgabe: Клуб убийц букв (1925–1927). 224 Seiten. ISBN: 9783038200192]
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Danke dir für diese Entdeckung jenseits der Pfade. Gerade heute haben wir über ein anderes Buch gesprochen, dass in den Dreißigern geschrieben, kurz darauf von den Nazis vefemt und erst 2014 wieder aufgelegt wurde. Blutsbrüder heißt das Buch und Ernst Haffner der Autor.
Aber dieses von dir vorgestellte Buch scheint ein Sammelsurium spannender und krasser Ideen zu sein. Es ist gut, dass solche Bücher aus ihrem Vakuum befreit werden.
Es gibt sicherlich einiges an wunderbarem Stoff, der in irgendeiner unbekannten Schublade liegt und darauf wartet, dass Leser ihn erblicken können. Insofern ist es nicht hauptgründig der Verdienst von Leuten, die darüber schreiben, sondern von Verlagen. So welchen, die den Mut und Sachverstand besitzen, derartige Literatur herauszubringen. Ohne diese würden wir erst gar nicht von Autoren erfahren, die wie in diesem Fall öffentlich nicht existent waren. Solche Motive bei Publikationen schätze ich.
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