Sein Vater fand nie Worte dafür, um seine Kriegserlebnisse auszudrücken und nahm diese, ohne sie zu teilen, mit ins Grab. Denn »selbst wenn er die Sprache dafür [gehabt] hätte, würde es keine Erlösung geben« und der Autor setzt dort an. In »Im Frühling sterben«, von der Literaturkritik überaus positiv aufgenommen, widmet sich Ralf Rothmann fiktiv diesem Unausgesprochenen. Nicht immer glänzt er, sein Stil scheint an einigen Stellen unpassend und zu sehr in sämtliche, zweitrangige Details vertieft, statt die Charaktere psychologisch zu sezieren. Deswegen bleibt vieles unausgesprochen und wenig fokussiert.
Rothmann siedelt seine Geschichte im Jahr 1945 an. Der Endsieg für die Deutschen ist mittlerweile so weit entfernt wie die Erde von der Sonne. Die Einheiten pfeifen aus den letzten Löchern, schwere Schlachten haben sie minimiert. Und so streifen die Verantwortlichen durch die Provinz und werben, um physischen Nachschub zu bekommen. Ein Gratis-Besäufnis auf dem Land soll die restlichen Drückeberger einsammeln. Darunter die beiden Melker Fiete und Walter, die schön ahnungslos kosten und folglich unfreiwillig eingezogen werden.
Die Folgen des Kriegs sind immer wieder zu greifen. Invaliden, Maschinengewehrschützen auf Krücken und einarmige Panzerfahrer finden sich en masse. Die Lage erscheint aussichtslos und das ist der allgemeine Tenor, der sich durchgesetzt hat, öffentlich jedoch noch nicht kundgegeben werden darf. An Bäumen hängende Deserteure stehen sinnbildlich dafür, dass der Befehl eingehalten werden soll: bis zur (drohenden) Niederlage Gegenwehr zu leisten. »Unser Führer sagte es ja schon: Ein Soldat kann sterben, doch ein Deserteur muss sterben.« Doch hinter diesem Vorhang hat sich die Wehrmacht verabschiedet. Game over. In der Verzweiflung besäuft sie sich, »Wacholder für den Endsieg!« Der Druck kommt von oben, Handgranaten werden in die Hacken der eigenen Truppen geworfen, damit sie vorrücken und bloß nicht blamabel die weiße Fahne hissen.
Die beiden Freunde werden zu Staffelmännern der SS ausgebildet und sind in Ungarn mittendrin im Getümmel. Walter versucht als Chauffeur seine Pflichten zu tun und solange durchzuhalten, bis der Krieg beendet ist – schließlich steht der Iwan bereits vor der Tür. Fiete dagegen, der Hitler nie gewählt hat und sich gegen die nationalsozialistische Ideologie ausspricht, versucht zu flüchten, seine eigene Haut zu retten und wird damit zum Vaterlandsverräter. In der finalen Sequenz wird Walter seinen Kameraden Fiete selbst umbringen müssen.
»Im Krieg kommt es nicht darauf an, was jemand wünscht, fühlt oder denkt, im Krieg zählt allein, wie jemand handelt – das werden Sie doch schon erfahren haben oder? Und dieser Mann, auf dessen Koppelschloss wie bei uns allen Meine Ehre heißt Träue steht, hat das Schlimmste getan, was ein Soldat tun kann: Er war nicht feige vor dem Feind, oh nein! Das ließe sich unter Umständen noch verstehen. Er war feige vor dem Freund! Darüber denken Sie mal nach. Wenn Sie morgen eine Kugel trifft, so vermutlich deswegen, weil Kerle wie er, Gewissenlose wie er die Flinte ins Korn geworfen haben.« (S. 156)
Im ganzen Roman lässt sich eine merkwürdige Distanzierung feststellen. Wenn Rothmann auf einer Seite (und diese Verfahrensweise findet sich immer wieder) ein Lazarett beschreibt (»Moosige Amphoren, ehemals Dachschmuck des barocken Gebäudes, lagen zertrümmert im Kies.«), das einen Hauch von Zitronen und Orangenduft versprüht, ist das zwar sprachlich ansehnlich und handwerklich überaus abhebend festgehalten. Immer wieder kommen dafür die Entwicklungen der Charaktere zu kurz. All das wirkt mehr wie die Intention, seine Kunst vehement beweisen zu wollen. Ausbreitende psychologische Ausarbeitungen fehlen im Grunde fast gänzlich. Der Protagonist Walter bleibt blass, wobei eben dieses Ringen bei der Erschießung mehr als zehn Seiten Beschreibung gefordert hätte. Da trösten der Einsatz, den Befehlshaber umzustimmen, und die Verabschiedung vor der Exekution nicht drüber hinweg – die Zerrissenheit fehlt. Auf diese Szene arbeitet der Roman immerhin lange hin. Ebenso als alles vorbei ist, Deutschland befreit wird und Walter zurück zu seinen Eltern und der Geliebten reist, erscheint der Verdrängungsmechanismus als zu einfach gelöst. Die Einstiche, die bei Fietes Ermordung Spuren hinterlassen hätten sollen, bleiben aus. Dadurch wirkt dieser Charakter unglaubhaft, kommt dafür immerhin den Eigenschaften des in der Einleitung beschriebenen wortkargen Vaters etwas näher, der den Krieg vermutlich ähnlich hinter sich gelassen hat.
Mit Sicherheit wird stellenweise wunderbare Metaphorik angewendet. Kaninchen mit dick geschwollenen Lidern und blutigen Augenschlitzen, die verschreckt lauern und auf die Bombardements der sowjetischen Flugeinheiten warten, stellen die Situation der letzten Männer der Wehrmacht dar. Sätze wie »Was auf die Welt bringen, das ist die härteste Arbeit. Zerstören und töten kann jeder Idiot!« bleiben ebenso länger haften und gehören eingemeißelt, weil sie groß sind. Die Abstände erscheinen dennoch zu groß, um eine schockierende Wirkung zu erzielen, selbst bei Passagen wie diesen, die abprallen und wenig berühren, was sie eigentlich müssten:
Der Himmel über dem Park war hell. Die Augen tränten in dem Gluthauch, der ihnen die Luft nahm. Die Russen hatten den Stadtteil an der anderen Seeseite mit Phosphor bombardiert. Festgeklebt auf dem schmelzenden Straßenbelag verbrannten Soldaten in schwarzem Rauch. Von Flammen wie von Schleierfetzen umhüllt, rannten Frauen über die Promenade, warfen ihre brennenden Kinder von der Mauer und sprangen blindlings nach. Bäume loderten, Glocken läuteten Sturm, doch die hohen Fontänen der Löschtrupps verdampften, ehe sie ihr Ziel erreichten. […] Unzählige Menschen wälzten sich im Wasser, das brodelte, zischte, dampfte, und kaum tauchten sie wieder auf und wankten ans Ufer zurück, reagierte die Chemikalie erneut. Der Kautschukfilm auf ihrer Haut entzündete sich am Sauerstoff, ein bläuliches Flackern, und wenn die Verzweifelten, deren Schreie immer schriller herübergellten, nach den Flammen schlugen, hafteten die an ihren Händen, und sie verteilten sie noch mehr. (S. 105-106)
»Im Frühling sterben« hat Stärken aber gleichzeitig auch Schwächen. Die Stärken liegen darin, indem Rothmann einen filmreifen Stoff niederlegt, der die Situation kurz vor dem Zusammenbruch des Dritten Reichs an der Front festhält und Opfer zu Tätern werden lässt. Die Schwächen kristallisieren sich im Umgang mit den Charakteren heraus, die feinfühliger und sensibler hätten behandelt werden müssen. Gleichzeitig wirkt die Sprache gekünstelt und ausufernd, nicht auf dem Punkt gebracht, häufig mehr dem Background gewidmet. Ein zweischneidiges Schwert.
[Buchinformationen: Rothmann, Ralf (Juni 2015): Im Frühling sterben. Suhrkamp Verlag. 234 Seiten. ISBN: 978-3-518-42475-9]
[Bloggerecho: Wesentlich positiver gestimmt waren die Besprechungen bei Aus.gelesen, Buchrevier und brasch & buch. Kritische Töne fanden dagegen Literaturen (unsere Schlüsse ähneln sich) und Zeilensprünge.]
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