Alles hängt, schwitzt und der Hunger kann nicht gestillt werden. Die Fülle und die Rettungsringe verhindern ein normales Dasein, das mangelnde Selbstwertgefühl sorgt für Angststörungen, ehe es sich komplett zur sozialen Phobie steigert. Der baldige Tod ist bereits prognostiziert. Doch plötzlich und durch ein Zaubermittel erhebt er sich, steigt wie ein Phoenix aus der Asche empor und befindet sich fortan ganz oben. Ansehen, Gewichtsverlust, Sex und Status sind zurückzuführen auf den Schnee, das Wiener Allheilmittel der Intellektuellen, Kreativen und Künstler.
Gewissermaßen spielt Autor Joachim Lottmann natürlich mit den Klischees. Die Kunstszene sowie allgemein die Welt der Reichen und Schönen beinhalten demnach Süchtige. Wer nicht auf Coca oder Sex-Orgien steht, kann kein richtiges Mitglied des elitären Kreises sein. »Nirgends werde so viel gekokst und gefickt wie in der Kunstszene«, heißt es von einer Dame. Lottmann bindet den Protagonisten Stephan Braum genau dort ein. Eine Persönlichkeit, die eigentlich zum Scheitern verurteilt ist, bekommt sich in den Griff und erlebt eine Wiedergeburt.
Stephan Braum war mal TV-Redakteur, wurde allerdings frühpensioniert. Von seiner Frau getrennt, von der Gesellschaft ausgeschlossen, leidet Braum an Fettsucht und beginnt dann nach einem Tipp eine Kokain-Diät, die ihn retten soll. Er nähert sich wissenschaftlich der Droge, liest Sigmund Freuds Schriften über das weiße Pulver oder M. Agejews »Roman mit Kokain« und hält alle Eindrücke, Auswirkungen und Dosierungen in einem Tagebuch fest. Geradewegs stellt Braum Veränderungen fest. Frauen zeigen sich interessiert an ihm, die Pfunde purzeln, seine Attraktivität steigert sich ins Unermessliche und auch neue Kontakte ergeben sich.
Braum, jahrelang in Abstinenz lebend, hat plötzlich wieder Geschlechtsverkehr. Mit Xenia, die auf Sadomasochismus steht, besichtigt er Paris, und auch die verwirrte Doreen landet häufig bei ihm in der Kiste. »Es fühlte sich an, als habe er eine zweite Pubertät durchlaufen und sei nun erst und zum ersten Mal ein Mann.« Die Glücksgefühle überwiegen und die Vergangenheit ist so gut wie ausradiert.
Jedoch – sein Unglück im alten Leben vergaß er nie. Bis zu seinem Tod, so wußte er, würde er sich mit Schaudern an seine Lage damals erinnern: bewegungsunfähig, de facto gelähmt, eingekerkert in einem sterbenden Elefantenkörper, häßlich, von den Menschen gemieden, ohne Erlebnisse, ohne Zärtlichkeit, aufgepumpt und zugedröhnt von zwölf verschiedenen Tablettensorten täglich, aufgezwungen von Ärzten, die seine Lebenserwartung auf wenige Jahre taxierten. […] »Alles hat eben seine Vor- und Nachteile.« Nein, die Vorteile waren jetzt hundertmal größer. (S. 135)
Der einstige Loser freundet sich mit Hölzl an, einem Künstler, der aufgrund einer Überdosis ins Koma fällt. Braum agiert dann als Galerist, Nachlassverwalter und erntet durch den Verkauf seiner Bilder die zudem Höchstpreise erzielen und teilweise gefälscht sind, das Geld. Nur was tun, wenn Hölzl, der natürlich aufwachen muss, doch regeneriert? Folgt dann der freie Fall ins Verderben, in den alten Lifestyle? Doch auch hier kann er auf die Hilfe des Kokains, dem Retter in der Not, bauen.
In Lottmanns Drogenroman begegnen Braum ebenso schmierige Matadoren wie Kai Diekmann oder Boris Bobbele Becker. Es sind so einige Auftritte, die das zur Persiflage machen. Ohne Betäubung sind solche Charaktere natürlich nicht auszuhalten.
»Endlich Kokain« kann eigentlich nur polarisieren. An keiner Stelle wird der Kokskonsum angeprangert. Die Persönlichkeitsveränderung, die Braum durchläuft, bringt nur Positives hervor. Sicher, er findet viele neue Freunde, weil er auch gerne Koks teilt, aber sonst? Letztlich bleibt Braum der große Gewinner, das neue Sternchen. Keine Makel. Keine Rückstände. Keine Kehrseite. Nur Aufhören darf Braum nicht, sonst würde alles wie eine Blase platzen. Das ist vielleicht die zentrale Kritik, die man zwischen den Zeilen herauslesen kann. Ein Koks-Abbruch bedeutet gleichzeitig das Ende.
»Endlich Kokain« ist ein reißerisches, höhnisches und boshaftes Werk, das zudem ordentlich stichelt, rüffelt und austeilt. Es kann als Seitenhieb auf eine (wohl) verlogene Szene verstanden werden. Popliterat und Querdenker Joachim Lottmann zieht ein Milieu, das gerne oben drüber stehen möchte, durch die Nase und rotzt es danach aufs Papier aus.
[Buchinformationen: Lottmann, Joachim (Apri 2014): Endlich Kokain. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 256 Seiten. ISBN: 978-3-462-04635-9]
Imposant!
Danke für deine Rezension dieses Buches. Joachim las bereits eine Rezension in der TAZ über dieses Werk, was ihn dazu veranlasste, es auf seine Lese-Wunschliste zu setzen. Deine Kritik bestärkt den Wunsch. Attraktives, interessantes, weil polarisierendes und unorthodoxes Buch, das viel Kraft aus Klischees zieht, diese aber gleichzeitig persifliert. Vermutlich jedenfalls.
Freut Muromez natürlich 😉
Und ja, man kann es lesen. Vor allem weil es wunderbar unterhält, auch wenn es auf der anderen Seite sprachlich nicht gerade herausragend ist.
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