Das Gefühl ist anders. Fremd, unbekannt und neu, weil es anders zu bewerten ist als das Empfinden, das zwischen Kind und Eltern oder Geschwistern entsteht. Es sind die ersten Schmetterlinge im Bauch, um mal eine abgedroschene und vielzitierte Metapher zu verwenden, die irgendwann ein jeder Heranwachsender spürt. Erste Liebe, Zuneigung, Verliebtsein und im Einklang Enttäuschung; darüber hat der in Siegen geborene Navid Kermani sein Buch »Große Liebe« geschrieben und in seinen Erinnerungen gegraben.
100 Kapitel, der Autor hat pro Tag je eine Seite verfasst, beinhaltet das autobiografisch geprägte Werk. Die Seiten sind mit den Nummern der Kapitel versehen. Kermani schreibt darin nicht nur über ein Verhältnis in den 80ern einer westdeutschen Kleinstadt. Ständig erklärt er dem Leser seine Vorgehensweise, sucht alte Tagebucheinträge heraus und zitiert Sufis wie Ibn ʿArabī oder arabisch-persische Liebesmystiker, die Argumente und Erklärungen für die Verhaltensweisen der Leidenschaft liefern sollen.
Alles beginnt auf einem Schulhof. Ein Junge, 15 Jahre, hofft auf Erwidern und Reaktionen. Seine Auserkorene, die Schönste der Schöpfung, hängt während Pausen in der Raucherecke ab, in der er sich aufgrund seines Alters noch nicht befinden darf und würdigt ihn kaum eines Blickes. Klar, sie ist deutlich älter, beendet bald ihr Abitur und dürfte eigentlich unantastbar sein. Durch seinen Charme, dem unbändigen Willen und einer Gemeinsamkeit – beide protestieren gegen die atomare Aufrüstung, verfolgen eine eher linkspolitische Denkweise und sprechen sich für den Frieden aus – gelingt es ihm, den Kontakt zu Jutta herzustellen. Es folgt eine kurze Beziehung, in der die Auserwählte ihn in einem besetzten Haus im Matratzenlager entjungfert, in die Liebeskunst einweiht.
[…] der Grund, weshalb ich es erwähne, ist die Entdeckung, daß die Große Liebe, um die mein Gedächtnis soviel Aufhebens macht, keine Woche gedauert hat, gerechnet vom ersten Kuß bis zur Trennung, sein Trennungsschmerz natürlich länger, in gewisse Weise bis heute, sonst würde ich nicht unsere Geschichte erzählen. (Kapitel 38)
So unvorhersehbar wie die Affäre beginnt, endet sie auch. Die Schönste bricht den Kontakt ab, zieht weg und lässt den Jungen links liegen. Dieser kann die Welt nicht mehr verstehen, harrt erfolglos vor ihrer Wohnung, um sie zum Gespräch zu bitten. Alles vergeblich. Der Junge durchlebt den Bruch wie eine Krankheit und hört nie wieder etwas von der Angebeteten.
Immer wieder vergleicht Kermani philosophisch seine Geschichte mit der von »Madschnūn Lailā«, in Arabien/Persien so bekannt wie William Shakespeares »Romeo und Julia«. In dieser sich der hineinsteigernde Madschnūn durch seine Gefühle zu Laila wie von Sinnen und besessen wurde. Orientalist Kermani habe sich beim Studieren dieses Textes an die eigene Vergangenheit erinnert und darin Parallelen gesehen.
Vom seinem verzweifelten Vater und allen Verwandten nach Mekka gebracht, damit er Gott bitte, ihn von seinem Liebeswahn zu befreien, weinte Madschnun erst, dann lachte er, schnellte abwechselnd hoch und vorwärts wie der Kopf einer aufgeringelten Schlange, […] und schrie: »Ja, ich habe mein Leben der Liebe verkauft – ich bin es –, und möge ich niemals aufhören, ihr Sklave zu sein! Sie sagen mir, ich solle mich von der Liebe trennen, weil dies der Pfad Genesung sei, aber ich bekomme Kraft, bekomme Gesundheit durch die Liebe allein, und stürbe die Liebe, dann stürbe ich mit ihr. […]« (Kapitel 57)
Vermutlich war das aber nicht der alleinige Grund nach 30 Jahren noch einmal so weit zurückzudenken und ein derartiges, essayistisches Buch anzufertigen. Das Leben seines Sohnes, wie er damals 15 und auf dem Weg zum Erwachsenwerden, unterscheide sich besonders. Statt sich mit der Literatur zu beschäftigen, wird der Rechner hochgefahren. Statt sich mit dem Papa zu unterhalten, trifft er sich dann doch lieber mit Freunden im Café. Das könnte ebenfalls ein Impuls gewesen sein, »Große Liebe« zu schreiben. Denn Kermani vermutet, dass er womöglich verliebt sei, sich deswegen so verhalte, ein ähnlich schwieriger Charakter für seine Eltern wie er damals wäre.
»Große Liebe« ist an sich ein reizvolles Werk, auch wenn manchmal die Einbindungen und Weisheiten der islamischen Liebesmystiker missfallen können, wenn man eher wenig für Gott übrig hat. Diese nehmen an einigen Stellen überhand. Im Gegensatz dazu wirkt die Persönlichkeit der Schönsten kaum fassbar, da sie nur gering beschrieben wird. Ja, sie hatte eine Zahnlücke und war hübsch, aber sonst? Was machte sie genau aus, was ihn so verzauberte? Dass sie eine Art Mutterfigur imitierte? Dass sie reifer und rebellischer war als er? Warum war die Liebe denn wirklich so groß? Oder war es nur vermeintliche Liebe, weil er sich damals an nichts Vergleichbarem orientieren konnte? Leider wird das alles ein wenig unter den Teppich gekehrt.
»Große Liebe« sorgt in erster Linie für Inspiration, selbst mal ein wenig zu forschen und zu hinterfragen, wie es denn bei sich damals so angefühlt hatte. In was für unangenehme Situationen man sich brachte, was für Glücksmomente ausgelöst wurden und welche schmerzhaften Erfahrungen man im Vergleich machen musste. Navid Kermani schreibt zudem effektvoll, – nachhaltig wie eine »Große Liebe« so ist.
[Buchinformationen: Kermani, Navid (Februar 2014): Große Liebe. Hanser Verlag. 224 Seiten. ISBN 978-3-446-24576-1]
[Anmerkung: Über die Wirkung von »Große Liebe« schreibt Birgit von Sätze&Schätze eindrucksvoll in ihrem Blog und bestätigt mein Resümee.]
Eine schöne Besprechung! Und danke fürs Verlinken! Herzliche Grüße, Birgit
Das Wunderbare ist ja, dass mein Fazit genau das trifft, was du in deiner Besprechung festgehalten hast. Welch ein Zufall, ist mir hinterher eingefallen, als ich sie las. 😉
Deinerseits schön geschrieben – das macht Lust auf Mehr.
Im Übrigen finde ich die Kuchenstücke als Bewertung äußerst ansprechend. 😉
Danke sehr und Hunger nach köstlicher Literatur verbreite ich gerne 😛
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