Literatur kann dich Star Trek-mäßig irgendwohin beamen. Ohne großen Stress und ohne große finanzielle Hürden. Lediglich die Fantasy muss ein wenig angeregt werden, im rundlichen Kasten da oben. So hat mich Tschingis Aitmatow (*1928-†2008) durch seine Erzählung »Aug in Auge« in ein Ail (gleicht einem kirgisischen Dorf) am Rande des Gebirges Alatau geführt.
Vorab aber noch etwas zum Autor: Er stammte aus Kirgisien, heimste für seine Werke sowjetische Auszeichnungen wie den Leninpreis oder den Staatspreis ein. Später agierte er als Berater von Michail Gorbatschow und als Botschafter. Sein vielleicht populärstes und bekanntestes Buch heißt »Djamila« (1958), das an Schulen in der DDR als Pflichtlektüre galt. »Aug in Auge« (1958) ist seine erste Erzählung.
Das Ail in »Aug in Auge« bietet ein ländlich idyllisches Bild und Abgeschiedenheit. Die Menschen arbeiten im Kolchos und für das junge Ehepaar Sejde und Ismail könnte das Leben nicht besser sein. Sie lieben sich, sind glücklich und schmieden Pläne. Dann beginnt der 2. Weltkrieg und Ismail sowie andere Dorfbewohner werden eingezogen, um für die Sowjetmacht zu kämpfen. Sejde gebärt, während ihr Gatte an der Front weilt. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion taucht Ismail plötzlich bei ihr auf. Dreckig, ausgelaugt und flüchtig. Er ist vom Zug abgesprungen, stellt sich quer, das Kriegsrisiko einzugehen und macht sich damit zum Dissidenten.
Ismail sagt ja: »Jedem ist sein Leben lieb, und in diesem Krieg kommt nur der mit heiler Haut davon, der selbst für seinen Kopf sorgt. […] Mag kommen, was will, ich halte meine Brust keiner Kugel hin! So gehört doch wenigstens jeder Tag mir, ich bin zu Hause! […] Soll jeder tun, was er für richtig hält, ich jedenfalls brauche das nicht und will es auch nicht. Was ändert sich denn, wenn ich hingehe? Ich allein bezwinge den Feind nicht, die schaffen es auch ohne mich.« (S. 19)
Fortan versteckt sich Ismail in den Bergen. Nur wenn die Sonne sich verabschiedet, taucht er im Dunklen bei Sejde auf. Sie versorgt und beschützt ihn wochenlang. Andere Frauen im Dorf dagegen erhalten Briefe mit dem Inhalt, dass ihre Männer gefallen seien. Mittlerweile sind Ismail NKWD-Männer auf der Spur, auch der Dorfsowjet Myrsakul, der in der Schlacht einen Arm verloren hat, wird misstrauisch. Der Dissident soll aufgegabelt, bestraft werden. Doch Sejde schweigt, lässt sich nichts anmerken und verteidigt damit den Vater ihres Kindes.
Ismails Mutter, die mit Sejde in einem Haus lebt, bringt das Paar dann auf die Idee. Einige ihrer Brüder wagten schon einmal die Flucht, als die Kulakenverfolgung ausgerufen wurde, und wiegen sich seitdem in Sicherheit. Der Ort, das Tschatkal-Tal ist allerding nur im Sommer, über einen Pass zu erreichen. Das bringt beiden Ansporn und Hoffnung, doch noch im sicheren Tal einen sorgenfreien Neuanfang starten zu können. Als Ismails erkrankte Mutter stirbt, die er eigentlich mitnehmen wollte, begeht dieser eine Tat, die ihm Sejde nicht verzeihen wird.
Aitmatow verbrachte seine Jugend zur Zeit des 2. Weltkriegs und entsprechend in den Nachkriegsjahren. Als Aimatow »Aug in Auge« 1958 in einer Zeitschrift veröffentlichte, hieß der große Sieger: die Sowjetunion. Von Dissidenten sollte nichts erwähnt werden, denn das wäre dann Systemkritik und diese war unangebracht. Deswegen musste sich »Aug in Auge« einer Zensur unterziehen. Schicksale von Individuen hatten keine Plattform, es galt, das große Ganze zu sehen und den Erfolg entsprechend zu begießen. Aitmatow wollte aber gerade diesen Widerspruch zeigen. Seine Figur Ismail fügt sich nicht der Volkspflicht und versucht sich nicht, der staatsbürgerlichen Pflichten unterzuordnen. Sie rebelliert stattdessen und wird dadurch zum Gesuchten, zum Verbrecher. Deshalb habe Aitmatow seine erste Erzählung, dreißig Jahre später ausgegraben, einige Seiten ergänzt und ihr den nötigen Feinschliff gegeben. Deshalb erschien noch mal eine Neuauflage.
Neben dieser Intention erschafft Aitmatow mit Sejde eine Frau, die das Ehegelöbnis – bis in alle Ewigkeit – einatmet. Ähnlich wie ihr Mann unterwirft sie sich nicht dem Staat, sondern handelt rein als treue Helferin in der Not. Wohlwissend, dass sie selbst für das Decken ihres Mannes bestraft werden kann. Sie spielt mit dem Feuer und verbrennt sich nicht. Sie handelt aus Liebe, bestraft aber am Schluss auch durch ihre Menschenliebe. Zudem rückt Sejde nicht von ihrem Weg ab und behält ihre humanen Eigenschaften.
Ismails Charakter verändert sich dagegen stetig. Aus dem einst milden und barmherzigen Traummann wird ein Tier, das vom Krieg gekennzeichnet ist. Das wie eine Bestie aus der Gesellschaft ausgeschlossen ist, in einer Höhle leben muss. Er vergisst, seine eigenen Interessen hinten anzustellen. Er vergisst, dass er andere verletzt und eigensinnig handelt.
»Aug in Auge« lebt neben den schönen Landschaftsbeschreibungen vor allem von der Spannung: Wird Ismail entdeckt und belangt? Kann Sejde die schwere Last tragen und sich weiter nichts anmerken lassen? Das Ende erscheint dabei eher überraschend.
Tschingis Aitmatow versteht sein Handwerk und lässt seine Erinnerungen mit in die Erzählung fließen. Akkurat zeichnet er die kirgisische Tradition und Kultur, die aus Verbundenheit, Harmonie, einem Kollektiv besteht und Eigensinnigkeit nicht toleriert. »Aug in Auge« verdeutlicht aber auch den Gegensatz, den ein Subjekt durchaus anstreben kann.
[Buchinformationen: Aitmatow, Tschingis (1989): Aug in Auge. Unionsverlag. Aus dem Russischen von Hartmuth Herboth. Titel der Originalausgabe: Лицом к лицу (1958). 112 Seiten. ISBN: 3-293-00131-9] [Foto: Jutta Schwöbel]
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Eins meiner absoluten Lieblingsbücher. Vielen Dank für diese wunderbare Besprechung.