Frédéric Valin – In kleinen Städten

Frédéric Valin - In kleinen StädtenManchmal ist die Welt klein. Da kommt man in Kontakt mit einem Autor, der selbst nichts davon ahnt, dass er mal in einer von mir verfassten wissenschaftlichen Abschlussarbeit auftauchte. Eben dieser Frédéric Valin hat nun nach »Randgruppenmitglied« (2010) seinen zweiten Erzählband mit dem Titel »In kleinen Städten« veröffentlicht. Darin enthalten: sechs Geschichten.

Den Anfang macht »Der Vorhang«. Es ist die achte Woche eines Pflegers und ein Ausschnitt, wie er, der Müde, den einzigen Pflegefall im Haus, Sylvia, versorgt. Sie, eine Epileptikerin mit Down-Syndrom, »ältere Kollegen sagen Mongo«, signalisiert ihm mit dem Ausruf »Du alte Schachtel!«, dass es ihr halbwegs gut gehe. Denn Sylvia hatte in der Vergangenheit einige Rückschläge; ein Krankenhausbesuch und die Trennung von ihrer Mutter haben ihren Zustand verschlechtert. Mühsam versucht der Protagonist Sylvia aus dem Bett zu heben und Gründe für ihr Verhalten zu finden. Er tappt genau wie die Medizin im Dunklen.

Valin beschreibt eine alltägliche Situation, wie sie bei der Arbeit mit Bedürftigen vorkommt, versehen mit Fakten, dass Behinderte noch nie durch die Fortschritte älter geworden seien. Trotzallem löst sie Ekel aus. Beim Zuschauen des Gangs auf die Toilette. Bei der Bemerkung, dass der Pfleger sich nicht im Klaren darüber ist, wessen Gerüche sich im Raum gerade breitmachen. Seine, durch den anstrengenden Akt, Sylvia auf den Topf zu befördern, eigenen oder doch die Ausdünstung, die bei der Exkretion von Sylvia entsteht? Vor allem die Hilflosigkeit und Überforderung des Pflegers, der all seine Überredungskünste auspacken muss, die wohl sowieso einen Empfänger verfehlen, wird deutlich.

In »Lea lacht« fahren Lea und ihr Ex-Partner in die portugiesische Region Algarve, um gemeinsam Urlaub zu machen. Beide können unterschiedlicher nicht sein. Während er in Vögel gewisse Omen sieht, sich für die Kultur aufgeschlossen interessiert, sich darüber informiert, ist sie wesentlich beschränkter. Eher lautet ihre Maxime: von Tag zu Tag denken. Spaß haben. Durch mehrere Liaisons. Täglich schütteln sich beide mit Alkohol zu. »[…] ich werde sicher zwei Wochen Tremor haben, wenn ich nicht mehr durchgehend angesoffen durch die Gegend tapere«. »[…] vielleicht mal ’ne Trockenzeit einlegen.« Während sie ihr nächstes Abenteuer sucht, findet, wirkt er verloren, unverstanden – fremd.

Lea ist noch im Bad, sie braucht dafür immer etwas länger, ich trinke das erste Glas ohne sie, an die Brüstung des Balkons gelehnt, und starre auf die Brandung. Die Gischt malt immer neue und immer andere Formen auf die Wasseroberfläche, komplizierte Muster bauen sich auf und zerfallen wieder, Systeme, die keine Sekunde stabil bleiben, um dann sofort zu einzelnen Bläschen zu zerfallen, sich zurückzuziehen und in sinnloser Beharrlichkeit einen neuen Versuch zu unternehmen, eine Ordnung zu finden. (S. 32/33)

Bereits hier verdeutlicht sich eine außerordentliche Stärke Valins: sein Blick auf scheinbar unwesentliche Details, die er wunderbar ausschmückt und die sich auf die Figuren übertragen lassen. Auch der Protagonist in »Lea lacht« unternimmt die Anstrengung, Struktur, eine Ordnung in seinem Leben zu schaffen, erfolglos.

Von einer Person, die jegliches Gespür, Mitgefühl ausblendet, handelt »Mutter« und wie auf dargebotener Liebe Abwehr ausgestrahlt wird. Die Nachricht, eine ehemalige Freundin sei gestorben, führt den Protagonisten zurück in seine ehemalige Heimat und zur Mama. Erinnerungen kommen hoch, aber auch die Erkenntnis, die Vergangenheit weiter hinter sich zu lassen. Für mich die schwächste Erzählung. Nicht weil Valin offen lässt, warum der Charakter keine Empathie empfinden kann, sondern weil sie zu wenig Tiefe beinhaltet, ruhig noch durch vier, fünf Seiten mehr preisgeben könnte.

»Der Trinker« spielt in Paris: Ein Genießer, der vier Wochen lang im Sommer am Stück ununterbrochen trinkt, begegnet einem deutschen Touristen und lädt ihn ein. Zu einer Gesprächsrunde. Zu einem Glas Prozentigem. »[…] und wissen Sie, ich genieße das sehr. Hier zu sein und nichts zu tun zu haben, als zu trinken.« Sonderbar an diesem Mann: Den Rest des Jahres, abseits der Zeit in der französischen Hauptstadt, lässt er die Finger vom Alkohol. Auch dem Rausch kann er nichts abgewinnen, darauf ziele er nicht ab, das sei nicht die Art des Trinkens, zu der er präferiere. Meint er. In Wirklichkeit dient er ihm aber dazu, zurückzuschauen und gleichzeitig immer wieder zu vergessen. Ein Trinker, der sich nicht als Trinker sieht, aber ein Trinker ist. Diese Erzählung lebt von dem Redeanteil des Trinkers. Niemand weiteres kommt zu Wort.

Schon jetzt nimmt meine Kritik eine Länge an, die so nicht gewollt war. Insofern möchte ich kurz auf die letzten beiden Erzählungen eingehen. »Der Oberbürgermeister« beinhaltet einen Kommunalwahlkampf, bei dem sich der scheidende Amtsträger, der von ihm erwünschte Nachfolger, ein weiterer Kandidat, Lokaljournalisten und ein ehemaliger Oberstudienrat, der das Bloggen für sich entdeckt, gegenüberstehen. In »Fast keine Wände« wird das Schicksal eines Mannes, der chronisch pleite ist, geschildert. Seine Freundin, eine ältere Ärztin, füttert ihn durch. Trotzallem kann er sich mit der Lage nicht anfreunden und flieht kurzerhand.

Frédéric Valin kann erzählen. Das steht fest. Wie er das macht? Sanft, gemäßigt. Gleicher Weise verlieren seine Figuren, die nie platt wirken, selten die Fassung wie der Autor in seinen Texten. Überhaupt, die besondere Fähigkeit Valins trumpft dann auf, wenn er sich aufmacht, die detailverliebten Schilderungen zu präsentieren.

Freilich, so ganz nachhaltig sind die sechs Erzählungen allgemein nicht, dass sie nun diesen und jenen komplett überragen. Ob es dem jungen Autor deswegen an Talent mangle? Ganz und gar nicht. Valin versteht es, durch unterschiedliche Herangehensweisen und Kreativität, vielfältige Szenarien und Figuren zu entwickeln, die ebenso länger funktionieren könnten.

»In kleinen Städten« verkörpert einen erfrischenden und kurzweiligen Erzählband, der nicht sonderlich abfällt, aber auch nicht mit der Kraft einer Explosion urplötzlich auftaucht. Muss er auch gar nicht. Was Valin dafür vorlegt: ordentliche Arbeit, die Hand und Fuß hat.

[Buchinformationen: Valin, Frédéric (Oktober 2013): In kleinen Städten. Verbrecher Verlag. 167 Seiten. ISBN: 978-3943167429]

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