Ein relativ unbeschriebenes Blatt war der Schweizer Joël Dicker. Mit seinem dritten Roman gelang ihm erst in Frankreich, dann global ein ultimativer Durchbruch: über 1,5 Millionen verkaufte Exemplare, zahlreiche Preise. »Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert« geht weg wie geschnitten Brot. Aber taugt dieser dicke Schmöker auch?
Die grobe Handlung ist rasch erzählt. Der junge Schriftsteller Marcus Goldman heimst erste Erfolge ein, steigt in die High Society auf und steckt dennoch in der Krise. Schreibblockade heißt das tückische Wort, das Autoren in den Wahnsinn treiben kann. Weder einige Seiten lassen sich aufs Papier bringen, noch schwirrt eine Themenvorlage in Goldmans Kopf. Dann sorgt eine Meldung für Alarm: Goldmans ehemaliger Mentor und Dozent Harry Quebert, ebenfalls Literaturschaffender, wird verdächtig, einen Mord begangen zu haben. Ausgerechnet in seinem Garten wird die Leiche des Teenies Nola gefunden, das seit 33 Jahren spurlos verschwunden ist. Beigelegt findet sich bei ihr auch noch das Originalmanuskript des Romans »Der Ursprung des Übels«, der Quebert die Karriereleiter aufsteigen ließ und ihn zu einem vielgepriesenen Verfasser machte.
Umgehend begibt sich Marcus Goldman in das Provinz-Städtchen Aurora, um dem einzigen Freund zu helfen, aus dem Schlamassel herauszukommen und gleichzeitig der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Goldman recherchiert, ermittelt, stolpert, muss Gegenwind spüren und findet dabei gleichzeitig einen Dosenöffner für ein eigenes Werk: »Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert« schriftlich festzuhalten.
Joël Dicker vereint in seinem Millionenseller Krimi und Liebesromanze, Literatur und die damit verbundene Ökonomie, Freundschaft und Zweifel. Die Spannung machen dabei vor allem die Abschnitte aus, die dem Auflösen des Verbrechens gewidmet sind. Wobei man mit vielen dieser Teilbereiche einfach nicht warm werden kann – unabhängig davon, dass mehrere hundert Seiten sowieso bei diesem vermeintlichen Pageturner überflüssig, aufgebauscht und unnötig wirken.
Da Marcus Goldman den Fall Harry Quebert aufdecken will, wird er zu einem Ermittler. Schnell kooperiert er mit Sergeant Gahalowood, der Goldman erst mal skeptisch begegnet, ihn dann aber bei der Recherche gewähren lässt. Aus dem anfänglichen Misstrauen entwickelt sich eine Zusammenarbeit. Goldman weiht Gahalowood bei seinen Funden ein, andersherum spielt Gahalowood Goldman all seine Informationen zu – so als ob er ebenfalls ein Beamter der State Police sei. Klar, rechtlich gesehen, wahrscheinlich überhaupt nichts Problematisches, wenn sich plötzlich so ein ungleiches Ermittlungsduo auftut. Eine Privatperson darf einfach mal so, sämtliche Einsichten bei der staatlichen Behörde haben – bei dem sonst so komplexen, zwielichtigen Rechtssystem der USA – und Gahalowood schaut dabei niemand genau auf die Finger. Darüber hinaus enthält der Fall Harry Quebert einfach zu viele Wendungen, sodass die Überlegung ins Spiel kommt, ob Joël Dickers Konzept vorhergesehen hat, so viele Seiten wie möglich abzugeben.
Nervtötend erscheint die Liebesromanze im Buch. Harry Quebert hatte seiner Zeit eine Affäre mit Nola (vgl. Femme fatale Lola), die er drei Jahrzehnte später immer noch liebt. »Oh Harry, ich liebe Sie doch so sehr«, taucht gefühlte 50 Mal auf. »Oh, Harry!« »Oh, Nola!« Oh Gott!!! Die verliebte Nola wiederholt sich mit ihren Aussagen immer wieder, was unheimlich kitschig daher kommt. Keiner anderen wird Harry je sein Herz schenken – wie reizend. Zwar wollte Quebert der Beziehung aufgrund des großen Altersunterschieds ein Ende bereiten (Pädophilie), aber das ging dann doch nicht so einfach. Schließlich ließ sich die Innigkeit doch nicht einfach unter den Tisch kehren. Erst nachdem Nolas Skelett in seinem Garten gefunden wird, wird auch klar, dass (vermutlich) sein großes Werk »Der Ursprung des Übels« genau über diese Beziehung handelt. Auszüge aus diesem Buch sind immer wieder zu finden. Warum es (im Roman) fast als Klassiker oder Weltliteratur rezipiert wird, keine Ahnung. Denn inhaltlich gesehen, stecken dort pubertäre Liebesbriefe, peinliche Liebensbekundungen und mehr nicht.
Positiv gefiel mir dagegen die Einbindung des Literaturbetriebs. Nicht nur die künstlerische Krise des Marcus Goldmans wurde stark gezeichnet, sondern welchen Druck sein Verleger ausübt, der über Leichen geht und nur ein einziges Interesse hat: durch rücksichtloses Marketing unbedingt großen Gewinn abwerfen.
Er lächelte gequält. »Wer hat Ihnen diese Flausen in den Kopf gesetzt? Sie sind ein Sklave ihrer Karriere, Ihrer Ideen und Ihres Erfolgs. Sie sind ein Sklave Ihrer Lebensumstände. Schreiben heißt abhängig sein. Abhängig von denen, die ihre Bücher lesen oder eben nicht. Freiheit ist gequirlter Schwachsinn! Niemand ist frei. Ich halte einen Teil Ihrer Freiheit in meiner Hand, so wie die Aktionäre dieses Unternehmens einen Teil meiner Freiheit in ihrer Hand halten. So ist das Leben, Goldman. Niemand ist frei. Wenn die Menschen frei wären, wären sie glücklich. Kennen sie viele Menschen, die wirklich glücklich sind?« (S. 432)
Trotz aller Kritik, der junge Joël Dicker hat einen ordentlichen Unterhaltungsroman vorgelegt, mehr aber auch nicht. Dieser wird mir allerdings zu doll in den Himmel gelobt, weil es typischer Mainstream-Literatur nahe kommt: zu wenig Tiefe und sprachlicher Hochgenuss, zu viel Drumherum und Hype.
[Buchinformationen: Dicker, Joël (August 2013): Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert. Piper Verlag. Aus dem Französischen von Carina von Enzenberg. Titel der Originalausgabe: La vérité sur l’affaire Harry Québert (2012). 736 Seiten. ISBN: 978-3-492-05600-7]
Die Frage ist, ob in allen Lobeshymnen denn jemals etwas anderes behauptet wurde als dass es ein solider Unterhaltungsroman ist. Natürlich ist es nicht mehr, es ist keine große Literatur, die verändert, bewegt und noch nach Beendigung der Lektüre beschäftigt. Aber ich glaube, das ist auch nirgendwo jemals gesagt worden, weshalb ich mich immer ein bisschen darüber wundere, dass es so vehement betont wird. 😉 Ansonsten stimme ich Dir zu .. mich allerdings hat Joel Dicker einfach ein paar Tage gefesselt – und mehr nicht.
Zumindest nicht auf den Blogs, denen ich folge. Sprich nicht bei dir, Mara oder Karo, die über Quebert ebenfalls schrieben 😛 Das sollte auch nicht als Seitenhieb oder sonst was verstanden werden. Eine kurze Google-Abfrage bestätigte, dass sämtliche Kritiken nur das Positive erwähnen und das weniger Gelungene außen vor lassen – von wegen Klassiker… Das ist es, was mich dann ein wenig doch störte.
Ich habe auch zuerst im Feuilleton von Dickers Roman gelesen und den ganz deutlichen Eindruck bekommen, den MÜSSTE ich unbedingt lesen, es sei DIE literarische Überraschung des Herbstes. Auf den Blogs, namentlich den oben genannten, relativierte sich das aber ganz schnell und so habe ich – dank der Blogs, sonst ist es ja immer genau anders – auch mal ein Buch nicht lesen müssen. Deine Besprechung bestärkt mich jetzt noch einmal. Vielen Dank dafür, es ist ja auch mal schön, ein Buch NICHT lesen zu müssen :-).
Viele Grüße, Claudia
Kein Problem 😛 Wollte besonders auch aufzeigen, dass es eben nicht DIE literarische Überraschung ist und dass man nicht unbedingt zugreifen muss… Da fänden sich zweifellos andere Titel eher.
Viele Grüße zurück!
Ich habe zwar erst 120 Seiten gelesen aber ich finde die Idee des Buchs nicht schlecht. Es ist keine hochtrabende Literatur aber es ist dennoch ein lesenswertes Buch!
Die ersten Seiten haben mich auch gefesselt. Danach hatte das Buch einige „Hänger“. Wünsche dir dennoch weiter viel Spaß und bin auf dein Fazit am Ende gespannt 🙂
Mir war gar nicht bewusst, dass der Leseeindruck der Blogger viel kritischer war als der des Feuilletons…interessant. Mir bleibt es jedenfalls ein Rätsel, wie ein Schriftsteller, der in seinem Debüt so schelmisch und galant den Literaturbetrieb durch den Kakao ziehen kann, im selben Buch eine so beschämend schlecht geschriebene Liebesgeschichte dahin rotzt – ich habe mich während der ganzen Lektüre gefragt, ob das ein schlechter Scherz ist, den ich nicht kapiere….deshalb bleibt Harry Quebert für mich ein sehr zwiespältiger Unterhaltungsroman.
Die „Romanze“ war das Schlimmste am ganzen Buch – so triefend und billig. Mir kam es zwischendurch fast hoch. Im Vergleich dazu haben mich sogar die Ratschläge von Harry nicht so gestört, die ein wenig Philosophie verspüren sollten und öfter bemängelt wurden.
Nur drei Kuchen? Irgendwo, irgendwer hat das Buch so sehr gelobt.
Ah, Du hast vergessen mich noch zu folgen 😉
Liebe Grüße, Gregor
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