Klaus Cäsar Zehrer – Das Genie

Viele stolze Eltern sehen in ihren Kindern etwas, was sie nicht sein können. Kaum erblicken die Säuglinge das Licht das Welt, herrscht schon ein Wettbewerb. All meine Bekannten behaupten, dass sich die Zöglinge ganz außergewöhnlich entwickeln. Es heißt – und das bestätigen ihnen (angeblich) Ärzte –, dass ihre Kinder viel weiter seien als die Altersgenossen in einem ähnlichen Stadium: Besser und früher sprechen, laufen, denken und was weiß ich was können. Demnach müssten wir von Mozarts und anderen Wunderkindern umgeben sein – was wir aber nicht sind, oder?

William James Sidis (1898 – 1944) war zweifelsohne solch ein Wunderkind. Er konnte mehrere Sprachen, studierte mit elf Jahren in Harvard und verblüffte die USA. In seinem Debüt zeigt Klaus Cäsar Zehrer jedoch, dass eine Hochbegabung nicht unbedingt für ein glückliches Leben sorgen muss. Denn Sidis ist das Ergebnis eines Experiments seines Vaters, der das Kind als Produkt einer Erziehungsmethode annimmt, ohne ihm Liebe zu schenken und ohne den Sohn auf das Leben mit all den Tücken vorzubereiten.

Bücher von Diogenes eignen sich perfekt für den Urlaub, das bemerke ich nicht zum ersten Mal (klick hier!). »Das Genie« hatte ich nach drei Tagen am Strand durch. Es überfordert nicht, liest sich flott, obwohl es mit einigen wissenschaftlichen Details versehen ist. Müsste ich ein Beispiel für einen echten Pageturner nennen, ich würde dieses Werk wählen, obwohl ich erst Bedenken hatte. Anfangs liest sich die Story wie eine typische Tellerwäscher-Geschichte: Immigrant aus der Ukraine kommt mit leeren Händen in die USA und startet eine erfolgreiche Karriere – tausendmal gehört. Weit gefehlt, denn erst nach den etwa 200 bis 300 Seiten nimmt das Buch Fahrt auf, besitzt zwischendurch einige Längen und endet dann leider einen Ticken zu abrupt.

Die Biografie von William James Sidis könnte sich nicht besser für einen Roman oder Film (kommt bestimmt) eignen. Zehrer erzählt die Geschichte über den soziophoben Außenseiter, schrulligen Nerd und geistigen Überflieger tragisch nach, das sollte man nicht verpassen. Auch übereifrige Eltern können aus diesem Stoff etwas mitnehmen: Drill zerstört, Zwang schadet.

[Buchinformationen: Zehrer, Klaus Cäsar (August 2017): Das Genie. Diogenes Verlag. 656 Seiten. ISBN: 978-3-257-06998-3]

[Weitere Rezension finden sich bei Sätze & Schätze und Zeichen & Zeiten.]

7 thoughts on “Klaus Cäsar Zehrer – Das Genie

  1. Pingback: Ist wieder soweit – Herbstvorschau 2017 | Muromez

  2. Lese das Buch auch gerade, weil es auf der Shortlist von „Das Debüt 2018“ ist. Gefällt mir bis jetzt (ca. S. 190) ziemlich gut. Bisher ist ja sein Vater der schrullige Sonderling. Bin gespannt auf den erwachsenen William James.
    Grüße, Anton

  3. Pingback: Der Zeit voraus – Klaus Cäsar Zehrer „Das Genie“ – Zeichen & Zeiten

  4. Ja, der Roman ist wahrlich ein Pageturner, wobei ich vor allem den zweiten Teil sehr interessant fand, wo das Genie schließlich im Mittelpunkt stand. Ich habe mich während der Lektüre immer wieder gefragt, was hätte er wohl Kluges, Gutes oder Sinnvolles erfinden, entdecken können, wenn er sein Talent wirklich genutzt hätte. Andererseits habe ich sehr viel Sympathie empfunden, dass er wiederum so bescheiden und nicht der Öffentlichkeit zugeneigt war. Vielen Dank für das Verlinken und viele Grüße

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