János Székely – Verlockung

Nicht zu leicht und nicht zu schwer. Unterhaltsam muss es sein, einem Pageturner gleichen, trotzdem sollte ich etwas lernen. Einige Faktoren, die für ein geeignetes Urlaubsbuch erfüllt sein müssen. Obwohl mein letzter Urlaub schon einige Wochen her ist, muss ich dieses Exemplar Reisefreudigen empfehlen. Denn mit Büchern wie »Verlockung« vom Ungarn János Székely (*1901 – †1958), das 1959 erstmals auf Deutsch erschien und Diogenes nun erneut – zum Glück – als Taschenbuch herausgebracht hat, kann ich stundenlang am Strand liegen und die Welt um mich herum komplett vergessen.

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Székely erzählt auf tausend Seiten eine klassische Hundeleben-Story mit »Cliffhangern« und bindet seinen Protagonisten in das kriselnde Ungarn zwischen den beiden Weltkriegen ein. Béla ist der Held des Stücks, wächst in einem Waisenhaus auf und zieht dann zu seiner Mutter vom Dorf in die Stadt Budapest, wo er als Liftboy im Hotel arbeitet und Neid auf die »Herren« sowie Upperclass entwickelt. Er erkrankt an »Liebesmalaria« und wird im Luxushotel zum (Sex-)Spielzeug einer reichen Gattin. Bleibt wie seine Familie (fast) durchgehend hungrig und arm wie eine Kirchenmaus. Schuld daran: die politische und wirtschaftliche Situation.

Das königlich-ungarische Horthy-Vaterland saugt die Arbeiter und Bauern bis aufs Blut aus und schwächt den Mittelstand. Viele hausen in Ghettos, werden zu Dieben oder begehen Suizid. Die gehobene Schicht dagegen stopft sich die Taschen voll, missbraucht ihre Amtsgewalt und profitiert von Korruption. »So wurden aus Kindern Dirnen, aus Arbeitern Verbrecher, aus Entrechteten Mörder.« Der Antisemitismus wird entfacht, eine nationalsozialistische Partei soll gegründet werden und im Untergrund formieren sich die Kommunisten, die die »wahnsinnige Gesellschaftsordnung« stürzen wollen, um eine »klassenlose Gesellschaft« zu etablieren. In diesem Elend steckt der pubertierende Béla, dessen Leben den Bewegungen eines Fahrstuhls gleicht: Es geht regelmäßig rauf und dann wieder runter.

Man merkt dem Autor an, dass er neben Prosa auch Drehbücher verfasste und für die Filmindustrie arbeitete. Die Sprache (in der Übersetzung) ist eine flüssige, wenn auch simplere, ohne große Wiedergaben von komplexen Gedankengängen oder psychologischen Prozessen. Was auch an der Ich-Erzählform liegt, denn der Roman ist aus der Perspektive von Béla geschrieben. Das Innere bleibt (wie beim Film) häufig ausgeblendet, entscheidender sind die Taten, Dialoge oder die Beziehungen der Handelnden zueinander. Ebenso bleibt die Personenzahl trotz der Ausführlichkeit überschaubar. Dennoch schafft es der Verfasser genügend historische Eindrücke und Milieustudien abzulichten und diese in eine unterhaltsame Geschichte zu bauen.

»Verlockung« taugt als Strandbuch, das selten langweilt, mehr für einen Tunnelblick sorgt. Inhaltlich erinnert das Werk an einen Entwicklungs-, Abenteuer- oder intelligenten Unterhaltungsroman, der zugleich Sozialstudien darbietet und das (gezeichnete) Ungarn der zwanziger respektive dreißiger Jahre beschreibt. Wer also gerade ins Warme flieht, Sonnenhut und Sonnencreme in den Koffer packt, der sollte noch Stauraum für dieses Buch finden. Es lohnt sich, nicht nur im Urlaub.

[Buchausgabe: Székely, János (Mai 2016):  Verlockung. Diogenes Verlag. Aus dem Ungarischen von Ita Szent-Iványi. Titel der Originalausgabe: Kísértés (1949). 992 Seiten. ISBN: 978-3-257-24363-5]

[Weitere Rezensionen bei Die Buchbloggerin oder Leseschatz.]

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11 thoughts on “János Székely – Verlockung

  1. Pingback: Vielleicht sehe ich, was du nicht siehst – Frühjahrsvorschau ’16 | Muromez

  2. Mir kommt das Bild auf dem Cover so unglaublich bekannt vor. Aber ich glaube es zierte mal das Werk eines polnischen Autors. Schlimm das Viellesen. Die Verlockung habe ich nicht gelesen. Noch nicht. Strand dazu wäre gut…

  3. Liftboy im Hotel? Sexspielzeug einer reichen Gattin? Da wäre es doch mal für Literaturhistoriker interessant zu recherchieren, ob Székely und Thomas Mann sich an der US-Westküste kennengelernt haben… So daß dieses Motiv sowohl bei Székely als auch im „Felix Krull“ vorkommt???

  4. Pingback: Klaus Cäsar Zehrer – Das Genie | Muromez

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