Sergej Lebedew – Menschen im August

Die Memoiren der Großmutter sorgen dafür, dass der Ich-Erzähler sich auf die Suche begibt, denn dieser will »das Ungesagte zu Ende denken«. Klappt leider nicht ganz. Dennoch wird die zentrale Figur zum »Pfandfinder fremder Leben«, die Verschüttete, Opfer der Sowjetunion, ausgraben soll. Der dritte Roman des Russen, Sergej Lebedew, »Menschen im August« funktioniert insgesamt jedoch überhaupt nicht, da sich dieser verstrickt, Seite um Seite unglaubwürdiger, aberwitziger und irrsinniger erscheint.

Sergej Lebedew - Menschen im August

Dass Vladimir Putin kein Demokrat durch und durch ist, lässt sich relativ einfach mit einem Fernrohr feststellen. Dass Putin jedoch, der Tyrann, Unterdrücker und Propagandist, für jegliches Unheil in der Welt verantwortlich ist, im Vergleich zu den imperialistischen US-Amerikanern, die natürlich nichts als Friede, Freude, Eierkuchen wollen, ist Käse. Lebedew versucht aber, Gründe für die (spätere) Akzeptanz Putins zu finden. Schuld an dem Zustand ist nicht nur Putin alleine. Schuld hat auch das Volk, in welchem das Damals tief verankert ist, das nicht wie eine löchrige, dreckige Unterhose einfach abgestreift, entsorgt werden kann. Der »Homo Sovieticus«, den Begriff den Swetlana Alexijewitsch in »Secondhand-Zeit« prägt, taucht wieder auf.

1991 zerfällt die Sowjetunion, Jelzin wird der erste Präsident Russlands, der Mann mit dem Feuermal auf dem Kopf, Gorbatschow, ist Geschichte wie das große Reich. Der Kommunismus kann nicht mehr modernisiert werden, der Kapitalismus soll kommen und das lyrische Ich stößt auf die Schriften der Großmutter, die ihr Leben beschreiben, bewusst Lücken lassen, die den Enkel neugierig machen: Wer war Opa M., was ist mit ihm geschehen? So behandelt der Roman im ersten Drittel die Vergangenheit, rekonstruiert die Oma, die vom Russischen Bürgerkrieg an alles erlebt, als Codiererin für den Nachrichtendienst gearbeitet hat.

Dann erfolgt ein Bruch, das Werk wird zum Reiseroman und (Polit-)Thriller, der Erzähler entdeckt seine Spürnase, bekommt Aufträge, um die »Asche der Verwandten anderer Leute« herzuholen. Herauszufinden, was mit Gefangenen der Diktatur und der ehemaligen Gulags geschehen ist. »Such keine Lebenden, such Tote«, wird sein Motto. Er trifft dabei auf Ganoven, Kriminelle, Söldner, denen er sich unfreiwillig anschließen muss. Er sucht in Betpak-Dala, der kasachischen Hungersteppe, mit Hilfe von einem legendären Wüstenführer, der selbstverständlich auch diverse Geschäfte betreibt. Er bekommt mit, wie ein Hundezar beseitigt wird, der (offenbar) heimlich eine alte Gefangenenkolonie mit Landstreichern und Dieben in der Taiga wieder auffüllt. Er sieht, wie abseits der Metropolen, das Sowjetische immer noch steckt und wie im Untergrund illegal operiert wird.

Es existierte keine Vereinzelung von Staat und Terroristen, alle hingen im Verborgenen miteinander zusammen, die Agenten beider Seiten hatten sich untereinander zu sehr gemischt, als dass man hätte sagen können, wer zu wem gehörte. (S. 330)

Leider weiß das Buch nicht, wohin mit sich. Links, rechts, geradeaus oder zurück? Die Richtung, die vorgegeben wird, ist unklar, der rote Faden nicht eindeutig erkennbar. Plötzlich ist Großvater M. kein Thema mehr, trotz des detektivischen Talents scheint er unauffindbar und bleibt mal über 50 Seiten komplett unerwähnt. Warum? Dann entsteht im Endspurt auch noch eine (kleine) Liebesgeschichte, die verheerend ist, weil sie mit den Tschetschenien-Kriegen verbunden ist. Tod, Liebe, Verrat durch Denunziation, eingebunden in ein Russland voller Korruption, Mafiosi, das im Grunde nichts anderes mit der Willkür als die Sowjetunion von damals unter Stalin darstellt. Mehr benötigt es nicht, um einen russlandkritischen Roman zu formen. Und ganz am Ende winkt der Opa dann auch noch mal kurz. Sein Schicksal, was nur durch ein Bündnis mit dem Teufel aufgedeckt werden kann, ähnelt dem des Erzählers – denn geht es einmal gegen die Obrigkeit, hast du ohnehin verloren! Es geht nur mit ihr!

Unfair wäre es zu sagen, dass Lebedew das sprachliche Talent fehle. Nein, es ist vorhanden, denn er kann den Hintergrund und die Situationen eindringlich wiedergeben. Allerdings fehlt es an Verbindungen und Zusammenhängen bei diesen ganzen absurden Darstellungen und Abenteuern. Sie sind viel zu weit hergeholt, nicht nachvollziehbare Erfindungen. Positiv dagegen, dass Lebedew gegen das Vergessen und Tatsachenverdrehen immer wieder ankämpft, wenn er die Schandtaten erwähnt, muss aber den mit den Hufen scharrenden Jelzin-Nachfolger, Putin, natürlich unbedingt einfügen.

Gepeinigte, Gemarterte – ich hatte mir das Recht genommen, in ihrem Namen zu sprechen, und gierte nach Rache an jenen, die immer noch beharrlich behaupteten, die Getöteten seien zu Recht getötet worden und die Häftlinge schuldig gewesen – oder es habe gar keine Häftlinge gegeben und die Repressionen seien eine Erfindung der Demokraten, um die Sowjetunion in Verruf zu bringen. Ich wollte sie rütteln, jeden Schweigenden an der Hand hierherzerren und mit dem Kopf in die gefrorene Tundraerde drücken, in die Grube eines alten Grabes, damit er tief den Geruch der Verwesung einatmete. (S. 189)

Geschichte wiederholt sich – Lenin → Stalin → Putin (alle drei enden auf –IN, und nicht nur die letzte Silbe des Namens soll ähnlich sein). Gegen diese Behauptung ist erst einmal nichts einzuwenden, wenn sie mit zuverlässigen Argumenten unterfüttert ist. Ist sie aber in dieser obskuren Story unterm Strich nicht. »Menschen im August« nervt, weil es sich verheddert, verknotet, verirrt. Spuren aufdecken/beseitigen? Das Unausgesprochene aussprechen? Das Postsowjetische ad absurdum führen? Und vielleicht waren es noch nicht einmal politische Gründe, warum Sergej Lebedew (anfangs) keinen russischen Verlag fand, um es im Putinland zu veröffentlichen. Vielleicht reichte es qualitativ einfach nicht?

[Buchinformationen: Lebedew, Sergej (Oktober 2015): Menschen im August. S. Fischer Verlag. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. Titel der Originalausgabe: Люди в августе. 368 Seiten. ISBN: 978-3-10-042511-9]

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5 thoughts on “Sergej Lebedew – Menschen im August

  1. Lieber Ilja,
    uiuiui, du lässt ja kein gutes Haar an dem Buch! Ich hatte Lebedew schon länger im Auge, um auch mal einen aktuellen russischen Schriftsteller zu lesen und Per Leos Artikel in der FAZ hat mich nur darin bestärkt. Nun werde ich wohl drüber nachdenken und nochmal reinlesen, ob ich meine doch knapp bemessene Lesezeit mit diesem Autor verbringen möchte. Vielen Dank, dass hier nicht nur gelobt wird, wie das ja auf so manch anderem Blog üblich ist! Vielleicht bin ich ja so um ein Ärgernis herumgekommen, weil, wenn ich so deine Rezensionen lese, haben wir doch einen ähnlichen Geschmack!

    Viele Grüße,
    Katharina

    • Liebe Katherina,

      mich hat dieses Buch einfach nur geärgert und ich habe versucht, darzustellen, warum das so wahr. Hoffe, dass das irgendwie ersichtlich und nachvollziehbar ist. Lies aber ruhig mal rein! Lass dich jedoch nicht täuschen. Es fängt gut an und nimmt danach immer mehr ab. Leider!

      Beste Grüße

      • Lieber Ilja,
        es kommt auf jeden Fall raus, was und warum es dich gestört hat. Ich werde mir auf jeden Fall ein kurzes Bild machen. Besonders ärgerlich finde ich ja, wenn Bücher gut beginnen und dann so abbauen. Man investiert Zeit ins Buch und ärgert sich nur, ach, das kenn ich leider auch. Mittlerweile bin ich aber zu dem Schluss gekommen, dass ich auch noch 50 Seiten vorm Ende abbreche, mir ist meine Lebenszeit fur solche Werke einfach zu schade und es gibt so viel zu entdecken.

        Viele Grüße

      • Liebe Katharina,

        normal geht es mir auch so. Ich möchte nicht mehr meine Zeit mit schlechten Büchern verplempern und breche diese bewusst ab. Hier hab ich noch gehofft, dass es die Wende bekommt und habe deswegen tapfer durchgehalten – hat es aber nicht. Egal, abgehackt. 🙂

        LG

  2. Pingback: PDFs wälzen – Herbstvorschau ’15 | Muromez

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