Boris Sawinkow – Das fahle Pferd

Lange vor der RAF, Al-Qaida oder dem IS war Terrorismus ein fester Bestandteil dieses Planeten und diente dazu, gewaltvolle und gleichzeitig gewaltige Zeichen zu setzen. Wie in Russland als Widerstand gegen die repressive Zarenpolitik und Monarchie vor der großen Revolution 1917. Boris Sawinkow (*1879 – †1925) war einer von diesen Radikalen, galt seinerzeit als Top-Terrorist der Jahrhundertwende. Der Sozialrevolutionär tötete hochrangige Politiker, hatte sogar den Zaren im Visier und verbreitete in den oberen Etagen Angst und Schrecken. In seinem wiederentdeckten, autobiografischen Roman »Das fahle Pferd« (1913) verarbeitet er seinen Blutdurst, erzählt aus erster Hand, was in einem Terroristen vorgehen könnte.

Boris Sawinkow – Das fahle Pferd

Killermaschine. Das trifft es gut. George ist so eine. Skrupel hat er keine. Moral ist ihm ein Fremdwort. Dürfte er sich was wünschen, es wäre der Tod des verdammten Generalgouverneurs, ein inniger Herzenswunsch. Gemeinsam mit seinen Komplizen beschattet er ihn, versteckt sich vor Spionen, tarnt sich. Er ist der Kopf dieser Bande, plant – und sein Plan wird nach einigen Anlaufschwierigkeiten aufgehen. Sieben Leben hat der Gouverneur nicht, das Attentat gelingt. Die Gedärme spritzen.

In Tagebucheinträgen hält er alles fest. Sie beinhalten Dialoge, Poesie und zahlreiche Bibelzitate, die seine Kollegen aussprechen – Christus verzeihe doch immer. Das Erstaunliche dabei ist, das kaum deutlich wird, warum George eigentlich mordet und er sich mit einer Bombe unterm Arm auf die Straße begibt: »Ich kann das Kämpfen unmöglich lassen. In wessen Namen? Ich weiß es nicht.« Karl Ove Knausgård hat jüngst in einem eindrucksvollen Essay versucht, herauszustellen, warum Anders Breivik 69 Menschen erschoss. Er kam zu dem Fazit, dass Breiviks Terror einerseits politisch motiviert war, aber andererseits wurde vor allem danach aus einem Niemand ein Jemand. George ist keine kümmerliche und unbeachtete Person, benötigt nicht die Aufmerksamkeit. Das wird deutlich, als ihm nach dem Angriff ein Zeitungsbericht vorgelegt wird und er diesen eher desinteressiert beiseiteschiebt. Ebenso ist es fraglich, ob das politische System tatsächlich immer eine so große Rolle spielt, wenn auch die hierarchischen Strukturen ihn anwidern:

Ich glaube an die Gewalt, ich glaube nicht an Worte. Wenn ich könnte, würde ich alle Oberen und alle Herrschenden töten. Ich will kein Knecht sein. Und ich will nicht, dass andere Menschen Knechte sind. Es wird gesagt, du sollst nicht töten. Es wird außerdem gesagt, den Minister, den sollst du töten, den Revolutionär, den nicht. Wie auch umgekehrt. Ich weiß nicht, warum man nicht töten soll. Und ich werde es nie verstehen, warum das Töten im Namen der Freiheit gut ist und im Namen der Autokratie böse. (S.10)

Ich wandle auf einem beschwerlichen Pfad. Wo blüht mir das Ende? Die verdiente Rast? Blut zeugt Blut, Rache lebt von Rache. (S. 170)

Aber auch jeder noch so erbarmungslose Bösewicht hat Schwächen. Georges Schwachpunkt ist Jelena, die verheiratet ist und die er liebt. Die ihn auch begehrt, aber sich nicht von ihrem Mann trennen will. Schreibt er noch am 30. April von einem wundersamen Kuss, von dem er nicht mehr wisse, ob er ein Traum gewesen sei, wandelt sich sein Gemütszustand und der Kontrast wird im nächsten Eintrag deutlich: »Heute ist der erste Mai – das Fest der Arbeiterschaft. Ich liebe diesen Tag. Er ist voll Licht und Freude. Am allerliebsten würde ich heute den Generalgouverneur umbringen.« Und George wird auch im weiteren Verlauf zum ersten Mal seine Pistole zücken, ohne dass er im Auftrag von irgendwelchen Parteifunktionären handelt, sondern aus persönlichen Motiven, was ihm zum Verhängnis wird.

Werden häufig die Übersetzer bei solchen ausgegrabenen Werken vergessen, muss man in diesem Zusammenhang den Namen Alexander Nitzberg, der in den vergangenen Jahren durch Neuübersetzungen von Michail Bulgakows Büchern in Erscheinung trat, unbedingt erwähnen. Er hat abseits des Kanons ein Werk übertragen, das ein Jahrhundert später immer noch unheimlich aktuell und keineswegs altbacken klingt, ein Blick auf Aleppo und Syrien genügt. Zudem hat sich Nitzberg innig mit Sawinkows Biografie beschäftigt, mehr als nur ordentlich recherchiert. »Das fahle Pferd« enthält nur 200 Seiten, die restlichen sind Dossiers, die zeigen, wer dieser Rebell und Schriftsteller eigentlich war und dass sämtliche literarische Figuren tatsächlich ähnlich existiert haben – so sollte eine derartige Ausgrabung aussehen.

Sentimentalität und Emotionen sind fehl am Platz, wenn der Berufsterrorist Boris Sawinkow staubtrocken die Taten seines literarischen Auftragskillers schildert, der irgendwie gar nicht so irre und dämonisch erscheint, wie er eigentlich erscheinen sollte. Die Gewaltakte wirken so, als wären sie das Normalste der Welt, als schaue man einem Bäcker beim Kuchen backen über die Schulter. Niemanden, der gleich Sprengstoff zünden wird und einen Staatsmann exekutieren will. Trotz aller Kälte, der Protagonist hat nicht nur Leidenschaft für das Töten über … Hauptmotiv bleibt aber der Terror als Lebensaufgabe. Fressen oder gefressen werden. Dazwischen liegt ein schmaler Grat. Sawinkow, der durch seine Erfahrungen vermutlich einen einzigartigen Roman und ein seltenes Psychogramm vorgelegt hat, und sein Protagonist haben lieber gefressen. Und das voller Gier.

[Buchinformationen: Sawinkow, Boris (September 2015): Das fahle Pferd. Roman eines Terroristen. Galiani Verlag Berlin. Aus dem Russischen übersetzt, kommentiert und mit einem dokumentarischen Anhang versehen von Alexander Nitzberg. Mit einem Nachwort von Prof. Jörg Baberowski. Titel der Originalausgabe: Конь бледный (1913). 304 Seiten. ISBN: 978-3-86971-114-0]

12 thoughts on “Boris Sawinkow – Das fahle Pferd

  1. Lieber Muromez, vor einigen Wochen habe ich zum ersten Mal von diesem Buch und diesem Autor erfahren und zwar im Zusammenhang mit einer Lesung, die Alexander Nitzberg gegeben hat, aber leider nicht in meiner Stadt. Und habe es auf meine Leseliste gesetzt. Vermutlich werde ich es nicht sofort lesen, habe noch den Roman von Nino Haratischwili hier und viele andere hier. Aber nach deiner Rezension hat mich fast ein Sog zum Bösen erfasst. Klingt nach einem Buch, das man mit aufgestellten Nackenhaaren liest…

    • Liebe Scherbensammlerin,

      in den nächsten Tagen wird es mehr von und über Alexander Nitzberg zu lesen geben – also bitte Augen offenhalten. 🙂 Mit Nino Haratischwilis Roman („Das achte Leben“?) wirst du aber wahrscheinlich erst mal für längere Zeit, angesichts der Seitenzahl, zu tun haben. Aber danach oder irgendwann solltest du unbedingt mal wenigstens in Sawinkows Stück reinschauen.

      „Aufgestellte Nackenhaare“ hatte ich komischerweise nicht. Das ist die Crux bei diesem Roman, find ich. Im Grunde ist der Protagonist ein böser, wie beschrieben, nur hat er für mich dieses Böse – vielleicht durch die Ich-Erzählform, in der der Roman verfasst ist, oder die Sprache – nicht verkörpert, obwohl er Taten begeht, die natürlich nicht nur rein gesetzlich nicht zu entschuldigen sind. Das war irgendwie faszinierend, wie bei Dostojewskis Figur Raskolnikow. Nicht falsch verstehen: Ich möchte Gewalt nicht befürworten und verabscheue solchen unmoralischen Aktionismus. Es war kein „ich würde genauso handeln“ wie der Terrorist, noch hatte ich Verständnis oder Sympathie für ihn. Der „Held“ dieser Geschichte bleibt mir – warum auch immer – aber ziemlich neutral im Gedächtnis. Das zu den Leseeindrücken …

      Es grüßt dich
      Muromez

  2. Lieber muromez,
    von dem Roman wusste ich gar nix, ich habe vor Jahren seine „Erinnerungen eines Terroristen“ gelesen. Hochinteressant, sowohl zeitgeschichtlich als auch aktuell zu lesen. Vielleicht ist es ja auch für Dich interessant? Damals ist es in der Anderen Bibliothek erschienen http://www.die-andere-bibliothek.de/Originalausgaben/Erinnerungen-eines-Terroristen::10.html – ist längst vergriffen, aber antiquarisch lässt es sich bestimmt finden.
    Vielen Dank für Deinen Post und liebe Grüsse
    Kai

    • Lieber Kai,

      wenn du die „Erinnerungen“, die im Nachwort erwähnt werden, gelesen hast, müsstest auch das „Das fahle Pferd“ lesen. Zeitgeschichtlich hochinteressant und aktuell ist es ebenso in jeder Hinsicht. Dein erwähntes Werk kenne ich nicht. Das hier ist meine erste Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit Sawinkows. Umso erstaunlicher, dass du ihn bereits kanntest!

      Lass mal bitte was von dir hören, wenn du dich für das „Pferd“ entschieden hast. Auf deine Meinung wäre ich gespannt!

      Liebe Grüße zurück
      Muromez

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