Karl Ove Knausgård – Lieben

Immer wieder lässt Karl Ove Knausgård die Hosen herunter, behandelt seinen Kampf und sein Leben, das häufig im Sumpf steckt, öffentlich. Diese persönlichen Offenbarungen eines von Selbstzweifeln zerfressenem Menschen sorgen dafür, sich selbst zu betrachten. Die drastische Reflexion, die der Norweger autobiografisch betreibt und die sich für nichts zu schade ist, findet sich kaum woanders. Auch deswegen ist Knausgård ein Autor der Stunde, weil er das imposant wiedergibt, was sonst im stillen Kämmerlein bleibt und verstaubt.

Karl Ove Knausgård - Lieben

Es ist erstaunlich, Video-Interviews des hageren, müden und gezeichneten Skandinaviers anzuschauen. Denn darin trifft man auf genau diesen Mann, der in den Werken vorkommt. Jemanden, der den ganzen Rummel um seine Person gar nicht möchte, schüchtern auftritt, alles andere als selbstbewusst. Der kritisch mit sich umgeht und behauptet, dass Glück nichts für ihn sei. Der extrem tief stapelt und Bestätigungen für seine großartigen Schreibfähigkeiten benötigt. Jedoch am liebsten nichts anderes auf der Welt machen möchte, als zu schreiben. In seinen Werken kann er nämlich genau das an- und aussprechen, wozu er in der Realität nicht in der Lage sei.

Handelte »Sterben«, der Erstling der sechsteiligen Reihe »Mein Kampf«, noch von dem autoritären Vater, der sich zu Tode soff, untersucht Knausgård in Band zwei, »Lieben«, die eigene Rolle als Papa und Ehemann. Er deckt sein Familienleben auf und zeigt, was es alles mit sich bringt. Oberflächlich betrachtet, ist Knausgård ziemlich abgefuckt in seiner Position. Strapazierte Nerven, stinkende Windeln, der Verlust eines starken Männerbildes und die Pflichten der Ehe, die Pantoffeln nicht mehr anzuhaben, zeugen davon. Doch wären die Kinder nicht, wären auch die ganzen lehrreichen Erfahrungen nicht, die einen wichtigen Teil des Lebens ergeben und die letztlich darauf hindeuten, was Liebe eigentlich bedeutet. Was dafür in Kauf genommen werden muss und wofür sich dieser Schlamassel lohnt.

So dient ein Kindergeburtstag dazu, um zu analysieren und zu erfahren, welche Rolle er in der Gesellschaft einnimmt und wer die anderen eigentlich sind, die auf ÖKO tun und irgendwelche sonderlichen Bio-Produkte servieren – zum Wohle des Nachwuchses natürlich. Knausgård ist sich immer seinen Schwächen bewusst, sonst würde diese Reihe so nicht existieren können. Kinderwagen schiebend streift er durch Stockholm, obwohl er glücklich liiert und gerade mit seinem eigenen Fleisch und Blut unterwegs ist, richtet sich sein Blick auf andere Frauen. Wozu? Warum muss er paradoxerweise andere attraktiv finden und sich Fantasy in seinem Kopf bilden, die in dieser Situation doch ziemlich unangebracht erscheint? Das gilt es zu untersuchen und dann setzt er an … Manchmal will man diesem Zweifler, Abkapsler und Einsiedler, der sich vollkommen besoffen, nachdem er eine Absage von einer Madame (sie wird später noch zu seiner Frau) bekommt, das Gesicht mit Glasscherben im Suff bewusst verletzt, über den Kopf streicheln und sagen: Beruhige dich, alles wird gut! Ihn auf mehr als fünf Bier einladen, den Tabak mit ihm teilen.

Während meines gesamten Lebens als Erwachsener habe ich mich von anderen Menschen ferngehalten, das ist meine Methode gewesen, mich durchzuschlagen, und das habe ich natürlich getan, weil ich anderen Menschen in Gedanken und in meinen Gefühlen so unerhört nahe komme, es reicht schon, dass sie nur eine Sekunde abweisend wegschauen, um in meinem Innereren einen Sturm losbrechen zu lassen. (S. 53)

Doch nicht jeder findet Gefallen an Knausgård, seinen Selbstentblößungen und diesem Vertiefen ins Unwesentliche, in Banalitäten, diesen Krümel, die liegenbleiben, Reste bilden, dennoch thematisiert werden. Zahlreiche Momente voller Stillstand bleiben: Wenn zum x-ten Mal das Vorbereiten des Essens ausgeschmückt wird, wenn er zum x-ten Mal eine Kippe auf dem Hof anzünden muss. Mich dagegen fasziniert dieser experimentelle, unvorhersehbare Stil, der nie linear ist, mehr ein Durcheinander bildet und an der Grenze agiert: Welche Bruchstücke wird er mir nun auftischen wollen, was kommt als nächstes? Auch wenn es manchmal keine genauen Hinweise gibt, worauf er hinaus möchte, keine typischen Anfänge oder Enden. Dabei handelt es sich um ein Treiben und Gleiten lassen, um eine ankerlose Erzählform, die alles erlaubt, was bei anderen Stilen ein No-Go wäre. Knausgård geht geschickt damit um, es ähnelt Tagebuch-Sequenzen. Oder einem Tag, der nicht durchstrukturiert ist und danach ruft, einem Plan zu folgen, der sich erst peu à peu entwickeln muss, um erfolgreich zu werden. Demnach stört es nicht, wenn Episoden und Gespräche aus dem Alltag wiedergegeben werden oder ein Exkurs über Dostojewski und den Nihilismus in einem kleinen Essay gehalten wird. Letztlich findet auch Knausgård Argumente dafür, warum er so schreibt, wie er schreibt – und es klingt plausibel.

In den letzten Jahren hatte ich mehr und mehr den Glauben an die Literatur verloren. Ich las und dachte dabei, das hat sich jemand ausgedacht. Vielleicht lag es daran, dass wir vollkommen vereinnahmt wurden von Fiktionen und Erzählungen, dass sie inflationär auftraten. Wohin man sich auch wandte, überall sah man Fiktionen. Diese Millionen von Taschenbüchern, gebundenen Büchern, Filmen und Fernsehserien auf DVD handelten von erfundenen Menschen in einer erfundenen, aber wirklichkeitsgetreuen Welt. Und die Zeitungsschlagzeilen und Fernsehnachrichten und Rundfunknachrichten hatten haargenau die gleiche Form, auch sie waren Erzählungen, und dann war es kein Unterschied mehr, ob das, wovon sie erzählten, sich tatsächlich zugetragen hatte oder nicht. Es war eine Krise, ich fühlte es mit jeder Faser meines Körpers, etwas Gesättigtes, Schmalzartiges breitete sich nicht zuletzt deshalb im Bewusstsein aus, weil der Kern in all dieser Fiktionen, ob nun wahr oder nicht wahr, in Gleichheit sowie darin bestand, dass der Abstand, den sie zur Wirklichkeit hielt, konstant blieb. Also dass sie das Gleiche sah. Dieses Gleiche, das unsere Welt war, wurde in Serie produziert. Das Einzigartige, worüber sie alle sprachen, wurde damit aufgehoben, es existierte nicht mehr, es war eine Lüge. Darin zu leben, in dem Bewusstsein, dass alles ebenso gut anders sein könnte, stürzte einen in Verzweiflung. Ich konnte darin nicht schreiben, es ging nicht, jeder einzelne Satz begegnete dem Gedanken: Das ist doch nur etwas, was du dir ausdenkst. Das ist wertlos. Das Erfundene hat keinen Wert, das Dokumentarische hat keinen Wert. Das Einzige, worin ich einen Wert erblickte, was weiterhin Sinn produzierte, waren Tagebücher und Essays, die Genres in der Literatur, in denen es nicht um Erzählung ging, die von nichts handelten, sondern nur aus einer Stimme bestanden, der Stimme der eigenen Persönlichkeit, einem Leben, einem Gesicht, einem Blick, dem man begegnen könnte. (S. 724)

Dieses zur Schau stellen des Privaten ist ohnehin nur noch so gerade im Bereich des Erträglichen, wenn er die Entbindung oder die Beziehung zur Gattin Linda Boström Knausgård beschreibt. Die ihn eingekerkert, ihn am Schreiben hindert und stattdessen immer mehr Aufgaben verteilt – nachdem sie das Manuskript las, war erst einmal Funkstille zwischen den beiden angesagt. Doch für den Leser sind diese Elemente aufgrund ihrer Transparenz von Nutzen. Immer wieder fragt man sich: Wie viel Knausgård steckt eigentlich in mir? Wie gehe ich in bestimmten Situationen mit mir und meinem Umfeld um, oder wie hätte ich in solchen Fällen reagiert? All diese Brüche, die in Knausgårds Leben und Seele passieren, laden dazu ein, selbst in den Spiegel zu blicken. Vielleicht macht genau das, diese Faszination Knausgård aus, sodass man unweigerlich bemerken kann, dass man nach der Lektüre mehr von seinem Leben weiß, als von seinem eigenen und das nun nacharbeiten möchte.

Knausgårds Literatur ist eine Zerreißprobe, die gleichzeitig einem Geduldsspiel ähnelt. Er projiziert ellenlang – und das benötigt Zeit – all seine Macken, Eigenschaften, die Ängste und Befürchtungen aufs Papier und das macht ihn sympathisch, weil dieser Scherbenhaufen und er als introvertierter Autor angefasst werden können. Das Schreiben nimmt bei ihm eine Funktion ein, die vor allem ihm selbst hilft. Die Folgen für den voyeuristischen Leser sind dabei vertiefende Denkprozesse, die auf den eigenen Charakter hindeuten und ihn plastisch zerlegen können, nachdem Knausgård die Steine ins Rollen gebracht hat. Kann Literatur noch mehr bewirken?

[Buchinformationen: Knausgård, Karl Ove (2013): Sterben. btb Verlag. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Titel der Oroginalausgabe: Min Kamp 2 (2009). 960 Seiten. ISBN: 978-3-442-71321-9]

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13 thoughts on “Karl Ove Knausgård – Lieben

  1. Ich muss erst einmal gestehen: Ich bin auch ein Fan, und nicht nur, weil ich allgemein die norwegische Literatur sehr schätze. Allgemein denke ich, hat Knausgard die Literatur sehr verändert, hin zu einem sehr persönlichen Stil, der sowohl die Beschreibung des Alltagslebens als auch philosophische Gedanken zum Leben allgemein verbindet. Es ist auch diese Offenheit, die einen erstaunt. Er lässt keine schlimme oder peinliche Situation aus. Und darin liegt auch eine große Ehrlichkeit, die ich sehr sympathisch finde.

    • Inwiefern und in welcher Bandbreite Knausgård die Literatur im Allgemeinen verändert oder verändert hat, mag ich nicht zu beurteilen. Meinst du damit die Skandinavische oder welche genau? Vorstellbar ist es auf jeden Fall, dass sein Stil anderen Mut gemacht hat, sich ähnlich zu öffnen und ihm in dieser Hinsicht vielleicht nachzueifern.

      Es gibt ja immer wieder diese auftauchende Frage, inwiefern ein Autor tatsächlich Autobiografisches einfließen lässt. Knausgård wurde ja mehrmals angeklagt von der Familie seines Vaters, weil er Personen namentlich erwähnt und kritisiert. Es bleibt wohl sein Geheimnis, was er wirklich verdeckt und verändert. Aber diese Offenheit imponiert auch mir.

  2. Ich warte, bis er vollständig ist, lasse mich in einen Tresor einschließen und in einem Fjord versenken. Und entweder komme ich als Fan wieder an die Oberfläche oder das war’s dann eben…………………..

    • 😀

      Hate it or love it! Etwas dazwischen gibt es, mein ich, nicht. Wünsche dir auf jeden Fall genug Sauerstoff da unten, den wirst du benötigen. Aber alle sechs Bände auf einmal? Puh, das wird hart. Ein klein wenig mehr Abstand würde ich empfehlen, sonst könnte dadurch mehr „hate“ als „love“ herausspringen 😉

  3. Eine sehr gute Rezi, die mir aber deutlich macht, dass das Buch nichts für mich wäre… der verunsicherte Mann im Zeitalter von Genderspinnerei und zuckerfreien Vollkornkeksen, der bin ich selber; das brauch ich nicht noch als Lesestoff. Zumal einem ja diese Haltung im zeittypischen Jammerlappen-Pop aus dem Rundfunk entgegen schallt. Da les ich lieber was von der Gegenwehr gegen all diese Zivilisationskrankheiten.

    • Stimmt, Gender-Themen lassen sich in Fülle finden, tangieren aber einen Mann, der in diesem Buch dem „Ernst des Lebens“ begegnet. Vollkommen ausklammern kann man sie trotzallem nicht. Und Jammerlappen-Pop braucht niemand, einen jammernden Knausgård benötige zumindest ich 😉

      Apropos, der Erstling (»Sterben«) wäre in diesem Fall, ggf. mehr etwas für dich. Weniger Gender und dafür Verarbeitung eines Tods + der Jugend. Ein Versuch wäre es wert. Danach könnten wir uns noch mal unterhalten 🙂

  4. Pingback: Jahresabschluss und Top Ten | Muromez

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