Das ostukrainische Charkiw, nur vierzig Kilometer von der russischen Grenze entfernt, ist das Zuhause von Serhij Zhadan und dort sind auch seine neun Geschichten und Biografien angesiedelt, die im zweiten Teil in Erläuterungen und Verallgemeinerungen als Gedichte behandelt werden. Der Titel des Romans hört dennoch auf den Namen »Mesopotamien«, der Landschaft in Vorderasien, die heute teils zum Irak, Syrien oder anderen Staaten gehört. Warum das Ganze? Weil sich Charkiw ebenso wie Mesopotamien von einer Multikulturalität strotzt und dennoch die einzelnen Kulturen zu etwas Besonderem vereint.
Der Hintergrund, der häufig zum Vordergrund wird, besteht aus dem Protagonisten Charkiw. Einer Stadt, die Postsowjet-Elemente vereint und obwohl Kapitalismus vorherrscht, bleibt der Umgang mit diesem fremd. Die Geschichten die Zhadan erzählt, die mit einem dünnen Faden verbunden sind – diesen zu erkennen, erfordert Aufmerksamkeit – und religiöse Verweise beinhalten, spiegeln das wider. Sie blenden den Ukraine-Krieg aus, da dieser bei der Entstehung noch kein Thema war.
Da wäre Marat, ein ehemaliger Boxer mit kaukasischer Abstammung, der nur mal kurz nach nebenan Zigaretten holen gehen will und dabei aus welchen Gründen auch immer erschossen wird. Beim Leichenschmaus kommt dann alles auf den Tisch: Legenden, Gerüchte, Tatsachen, je später es wird, desto mehr steigt der Tote durch die auferstehenden Worte empor. Von männlichen Qualitäten, die er als Liebhaber verkörperte, vom Beschützer-Instinkt und von einer unvergleichlichen Moral ist die Rede. Dabei wird in dieser illustren Runde vergessen, dass es keine Alltäglichkeit sein kann, wenn jemand plötzlich vom Gang zum Kiosk nicht mehr zurückkommt und danach tot aufgefunden wird. Doch diese Kuriositäten und Dubiositäten erscheinen in der Stadt zwischen den zwei Flüssen niemanden mehr zu verwundern. Sie tragen sich wohl derartig häufig zu, als dass sie immer wieder Hände über den Kopf schlagend aufgenommen werden müssten.
Niemand von uns weiß, sagte Sam und zündete sich eine Zigarette an, sodass die Narben auf der mehrfach gebrochenen Nase im Licht rosa aufflackerten, wie nahe er dem Tod ist. Niemand hat eine Vorstellung davon, wie weit er schon auf sein Gebiet vorgedrungen ist. Sam sprach vielleicht weniger überlegt, als ich das nacherzähle, sog nervös den Rauch ein, stotterte ein bisschen, aber er erzählte genau davon. Der Tod, sagte er, kommt uns nie entgegen, er kann warten, steht im frischen smaragdgrünen Gras, unsichtbar und unvermeidlich, und beobachtet, wie leichtsinnig und unvorsichtig wir in seinen Schatten laufen. Manchmal gelingt es uns, diesem Schatten zu entkommen. Obwohl von uns meist wenig abhängt. Wir sind ihm schutzlos ausgeliefert, gelähmt vor Angst und Resignation. Und es gibt nur wenige, die diese Resignation überwinden. Mit Marat war es besonders merkwürdig. Er hatte keine Angst vor dem Tod und liebte die Frauen. (S. 41-42)
Zhadan behandelt seine Figuren originell, stattet sie oder ihr Treiben mit viel Witz aus. Auf ihrer eigenen Hochzeit begegnet die bereits mehrmals geschiedene Braut einem Liebhaber, mit dem sie kurz um die Ecke verschwindet, um Körperflüssigkeiten auszutauschen. In einer Wohnung treffen sich die angereiste Cousine und der träge Cousin, treiben es miteinander. Wenn der mächtige Onkel sie dabei nur nicht erwische, hofft der Neffe, der natürlich erwischt werden wird und die Beine in die Hände nehmen muss. Auch ein junger Neuankömmling (Romeo), der sich extraordinär und ziemlich cool mit der ultramodernen Sonnenbrille findet, versucht bei seiner älteren Nachbarin zu landen, obwohl er sich die aufregendsten Settings überlegt, um sie zu überwinden und für sich zu gewinnen – alles vergebens. Stichwort Liebe, die in aller Regelmäßigkeit ein Hauptmotiv für das Handeln ist:
Das Wichtigste aber – wie treiben die gesamte nicht bezahlte Liebe dieser Stadt ein, bis zum letzten Krumen, bis zum letzten Atemzug. Eigentlich sind wir alle hier, in dieser Stadt, Zöllner für Liebe. Wir nehmen sie morgens, wir suchen nach ihr abends, wir finden sie nachts. Denn es kann keine nicht bezahlte Liebe geben, keine Liebe für sich, denn die gesamte Liebe gehört dieser Stadt, die Stadt besteht aus dieser Liebe, füllt sich damit wie mit Regen im Herbst, wärmt sich auf wie mit der Steinkohle im Winter. Ohne sie, ohne diese Liebe wird die Stadt einfach an Kälte und Durst sterben, die letzten Einwohner werden sie verlassen, sie werden ausziehen wie aus einem Labyrinth, weil sie es nicht über sich bringen werden, ziellos weiter durch diese Straßen und Winkel zu streifen. (S. 261)
In Charkiw wird nicht nur besonders viel gesoffen und getankt, es wird auch häufig nur mit Fäusten gesprochen. Massenschlägereien eignen sich dort entsprechend als Volkssport, um Konflikte auf eigene Art und Weise zu lösen. Zwielichtige Machenschaften sind sowieso Gang und Gäbe: »Alle hinterziehen Steuern, aber meistens wird der eingelocht, der als erster vorgeschlagen hat, keine zu zahlen.« Und trotz all dieser Probleme, die einem aus dem Westen derartig fremd und irreal erscheinen können, bleibt Charkiw Zufluchtsort und kleben, von sich streifen können es die Einwohner nicht. Wie es bei Bob der Fall ist, der auszieht um in den USA sein Glück zu finden, verbittert, zerlumpt und niedergeschlagen zurückkehren wird.
Serhij Zhadan zeigt sich in diesem einmaligen Band von einer Seite, die die Sache mit viel Esprit und Humor angeht. Selbst wenn es nicht mehr viel zu lachen gibt, selbst dann gelingt es dem Autor, Elemente einzubauen, die zum Schenkelklopfen einladen. Das ist ein Trumpf, der manchmal vergessen lässt, dass es sich um den Everyday Struggle handelt, der stets wie ein Bumerang, trotz aller Träume und Entgleisungen wieder auftaucht. Charkiw eben, unerklärlich, eigen, wie Zhadans himmlische Liebesbekenntnisse.
[Buchinformationen: Zhadan, Serhij (August 2015): Mesopotamien. Suhrkamp Verlag. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, Juri Durkot und Sabine Stöhr. Titel der Originalausgabe: Месопотамія (2014). 362 Seiten. ISBN: 978-3-518-42504-6]
Wie schön, „Mesopotamien“ liegt schon zur Lektüre bereit. Jetzt brauche ich nur noch Lesezeit.
Die wünsche ich dir und bin gespannt, was du zu diesem Werk zu sagen hast. Mir hat es im Großen und Ganzen ganz gut gefallen, vor allem weil es außergewöhnlicher war. Poetisch, skurril, hatte seinen Reiz und eine persönliche Note.
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