In der nahen Zukunft und in »Telluria« bekommt Nägel mit Köpfen machen eine vollkommen andere Bedeutung. Präparierte Nägel werden IN die Köpfe gemacht oder vielmehr in die kahlrasierten Schädel eingeschlagen, wodurch sich eine Droge entfaltet, die als das neue Wunderelixier gefeiert wird. Auch sonst ist kaum noch etwas, wie es heute ist: Zahlreiche territorialen Grenzen haben sich verschoben, zahlreiche Kriege haben verbrannte Erde hinterlassen. Vladimir Sorokin hat in seinem neuen Roman, der bereits 2013 in der Heimat Russland erschienen ist und nun auf Deutsch veröffentlicht wird, in die Glaskugel geschaut. Entsprungen ist eine irre Mixtur aus Science-Fiction und Satire.
In Sorokins dystopischer Vision existiert das heutige Russland, nachdem es Putin vor die Wand gefahren hat, nicht mehr, das imperiale Herz hat aufgehört zu schlagen. Stattdessen bildet sich das einst größte Land aus 15 unabhängigen Staaten wie dem kommunistischen-orthodoxen Moskowien, dem Rjasaner Reich, der Republik Ural oder SSSR (Stalinische Sowjetische Sozialistische Republik). Auch Preußen, Bayern, Kalifornien oder die Normandie sind autonom und selbstständig. Regiert werden diese Absplitterungen von Gossudaren, Fürsten, Diktatoren und anderen. Nach drei Jahren darf auch endlich wieder in Köln Karneval gefeiert werden – Alaaf!, nachdem Nordrhein-Westfalen von den Taliban befreit wurde. In Europa hat es einen Kampf zwischen Christen (angeführt von einem Ritterorden) und Muslimen gegeben, der fortgeführt wird:
Die Feinde der Christenheit haben sich nicht beruhigt. Von uns in Marseille zerschmettert, sind sie zurückgewichen, in ihrem schwarzen Blut watend. Doch ihr Hass auf das Europa ist nicht versiegt. Wieder sammelt Ghazi ibn Abdallah, der aus der Kriegsgefangenschaft geflohen ist, ein Heer, um uns zu überfallen. Immer noch trachten die Feinde danach, Europa zu versklaven, unsere Kirchen zu zerstören, unsere Heiligtümer mit Füßen zu treten, uns mit Feuer und Schwert ihren Glauben aufzuzwingen, ihr grausames Regime zu errichten und die Europäer in eine fügsame Herde von Sklaven zu verwandeln. (S. 172)
Europa, alter Kontinent! Wiege der arglistigen Menschheit, Bollwerk der Sünder und Ehebrecher, Hafen der Abtrünnigen und Veruntreuer, Hort der Gottlosen und Sodomiten! Möge der Donner des Dschihad deine Mauern erschüttern! (S. 65)
Europa, die Wiege der Zivilisation. Die alte Dame. Sie hat es nicht leicht gehabt. Der wahhabatische Hammer hat auf sie eingeschlagen. Gnadenlos schlug er zu, grausam. Aber Europa hat diesen Schlag überstanden, das Rückgrat wurde ihm nicht gebrochen. Obwohl ihm viele Knochen gekracht sind. Es wurde zerstückelt und zerquetscht. Aber es lebt. (S. 247)
Insgesamt hat sich die Erdkugel von demokratischen Systemen verabschiedet und wurde politisch zurück ins Mittelalter katapultiert. Technologisch ist die Forschung dagegen erheblich weiter, die Gentechnologie ist verbreitet. Lebensmittel können wie Winzlinge oder überdimensionale Arbeitstiere hergestellt werden. Autos steuert fast niemand mehr, wenn dann haben Kartoffeln das Benzin als Antriebsstoff ersetzt. Dafür sind die meisten wieder auf das ursprünglich klassische Fortbewegungsmittel, die Pferde, umgestiegen. Viele führen sogenannte Gripse bei sich, Weiterentwicklungen von Smart Phones mit Augmented-Reality-Einsatz, die Hologramme zeigen, alle erdenklichen Informationen ausspucken und Enzyklopädien ähneln, auch Virtual Love, Cybersex kann durch diese gewährleistet werden.
Der Mensch hat sich den Glauben an die Transzendenz zurückgeholt. Sein Gefühl für die Zeit. Wir sind nicht mehr in Eile. Und das Allerwichtigste ist: Wir begreifen, dass es auf Erden kein technologisches Paradies geben kann. Und überhaupt kein Paradies. Die Erde ist uns als eine Insel der Überwindung gegeben. Und jeder wählt aus, was er überwindet und wie. Jeder für sich selbst! (S. 265)
Derweil führt Oberst Jean-François Trocart in dem Staat (nicht überall als solcher anerkannt) Telluria ein Leben wie Gott in Frankreich. Er hat die barabinische Provinz im Altai – aus strategischen Gründen – eingenommen: Dort kann schließlich nach einem Fund in einer Höhle das Präparat Tellur abgebaut werden. Diese Nägel zeigen Sehnsüchte und Träume ganz nah, lassen Kontakt zum Jenseits oder zu Vergangenem herstellen. Sie vermitteln Glück, einen dauerhaft euphorischer Zustand sowie einen Verlust des Zeitgefühls. Bergen aber auch Risiken: Werden die Nägel von den Spezialisten, sogenannten Zimmermännern oder der billigeren Variante, Handwerken, schief eingeschlagen, tritt unwillkürlich der Tod ein.
Alles verblasst, alles schwindet und erlischt neben dem göttlichen Tellur. In der Welt der narkotischen Substanzen kennt dieses Produkt nicht seinesgleichen. Heroin, Kokain, LSD, Amphetamine – das alles ist armselig neben dieser Vollkommenheit. (S. 378)
»Telluria« besteht aus 50 Kapiteln, die mehrfach abrupt abrechen, wenig Kohärenz enthalten und kaum miteinander verbunden sind, das Tellur findet jedoch fast immer wieder Erwähnung. Sorokins Sprachgewalt erfordert Konzentration. Sie ist nichts für eben zwischen Pausenbrot und Instantkaffee. Der Stil unterscheidet sich merklich, immer wieder neue Charaktere tauchen ohne Einleitung wie Orte oder Situationen auf. Ein Kapitel kann auch mal aus einem Satz über drei Seiten bestehen, der keine Interpunktion enthält und nur so mit Fremdwörtern (»gegen […] Manichäismus, Monophysitismus und Monotheletismus«) um sich schmeißt, aus einem Brief oder Lexikoneintrag. Der Duden liegt brav daneben und der Grips unseres Zeitalters, Google, steht bei. Gelegentlich taucht Kauderwelsch auf, altaische, kasachische oder chinesische Begriffe fließen mit ein, oder anderweitig experimentelle Gemische. Acht Übersetzer, das Kollektiv Hammer und Nagel, darunter der grandiose Andreas Tretner, müssen ein Mammutprojekt gestemmt haben. Eine Cappy sollte gezogen werden!
Abgesehen von der Sprache begegnet man immer wieder Skurrilem: Winzlinge, die Vibratoren verkaufen oder lebendige Penisse, Riesen, Zwitter (halb Menschen, halb Tiere), gigantische Pferde, die beim Furzen ein Kanonendonner hinterlassen. Sorokins Kreativität ist kaum zu bändigen. Sie äußert sich regelmäßig in den humoristischen, satirischen Elementen, aber vor allem durchgängig in den kritischen, die Bezug zur Religion oder Mystik nehmen.
Das Verhältnis zu Drogen verändert sich zunehmend in Sorokins Welt. Die Realität wird ausgeblendet, die Konsumgesellschaft benötigt nun durch das Allheilmittel Tellur die Fiktion, um auszubrechen und Antrieb zu bekommen. Die Sorgenfalten der mittags am Tresen sitzenden Stammtisch-Sprücheklopfer dürften sich vergrößern: Die Furcht vor einer (gewaltvollen) Islamisierung Europas ist berechtigt, die IS lässt grüßen, und ein zerstörerischer Konflikt der Religionen unvermeidlich. Zudem sieht Sorokin, Putin als gescheitert an. Vladimir verliert nicht nur die Macht, auch sein Imperium, das auseinanderdriftet – eine seiner größten Ängste. Und so lässt sich unweigerlich, in jedem Kapitel ein Wink mit dem Zaunpfahl erkennen. Ein Wink, der nicht mit Kultur-, Gesellschaftskritik, politischen und ideologischen Beanstandungen spart.
Die Zukunftsmusik, die Vladimir Sorokin anstimmt, gleicht nicht unbedingt einem Hörgenuss. Es ist eine wilde Interpretation, gleichwie eine literarische Delikatesse, die vielleicht durch das ordentliche Gepfefferte irgendwann Bestandteil eines Kanons werden könnte. In der Werbesprache ausgedrückt: Das Buch des Jahres! Oder auch nur: groß, größer, Sorokin!
[Buchinformationen: Sorokin, Vladimir (August 2015): Telluria. Aus dem Russischen vom Kollektiv Hammer und Nagel. Verlag Kiepenheuer & Witsch. Titel der Originalausgabe: Теллурия (2013). 416 Seiten. ISBN: 978-3-462-04811-7]
Hat dies auf Fabulierlust rebloggt.
Klingt krass und ziemlich abgefahren, könnte durchaus was für mich sein. Das kommt mal auf meinen Wunschzettel 😉
Ja, es ist verrückt, dennoch anspruchsvoll und irgendwie genial! 😉
„Der Nagel, der gefügig macht“ erinnert an Aitmatows Kamelhälse, die den Opfern über den Kopf gezogen werden. Nass machen, in die Sonne setzen und warten, bis die Deformierung des Kopfes auch das Denken abschaltet. Gab’s unter zweierlei Namen in den 80ern:
„Der Tag zieht den Jahrhundertweg“ (DDR-Buchtitel) oder „Das Schafott“(BRD-Buchtitel).
Aber die veränderte Europakarte hört sich interessant an.
Immer wieder erstaunlich deine Assoziationen und Verweise – eine Bereicherung!
Hier haben die Nägel allerdings eine andere Funktion, sie machen nicht gefügig, sie machen die Menschen nahezu physisch perfekt, damit sie im Kampf gewappnet sind. Und psychisch dient die Droge dazu, sich in Traumwelten zu bewegen, in Sphären einzudringen, in die ohne dieses Mittel kein Zugang gewährt bleibt. Nachteile und Nebenwirkungen gibt es kaum noch welche. Abhängigkeit wäre da zu nennen und ein weiteres Risiko der Tod, falls diese falsch eingeschlagen werden. Nahezu eine ausgereifte Substanz, die kaum vollendeter sein könnte.
Hört sich ja einer schönen Zukunft an! Aber es ist sicher interessant in so eine Welt einzutauchen.
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