Wenedikt Jerofejew – Die Reise nach Petuschki

»Die hochprozentigste Sauftour der Weltliteratur« rankt es auf der Rückseite. Tatsächlich wird bis zur Besinnungslosigkeit hinuntergekippt und gelötet, was das Zeug hält. Wenedikt Jerofejews »Reise nach Petuschki« aber nur auf den Alkoholkonsum zu beschränken, wäre aber viel zu simpel. Surreale Ebenen und Phantasmen machen sich auf, die bis zur finalen Apokalypse andauern. Aus den benebelten und berauschten Träumen lässt sich viel mehr herausfiltern, als die Oberfläche annehmen lässt.

Wenedikt Jerofejew - Die Reise nach PetuschkiWie bei so vielen russischen Schriftstellern hat »Die Reise nach Petuschki« seine eigene Rezeptionsgeschichte: Wenedikt Jerofejew (*1938 – † 1990) durfte sein Werk in der Sowjetunion nicht veröffentlichen. Es verbreitete sich stattdessen illegal über den Samisdat und wurde Teil der verbotenen Untergrundliteratur. 1973 wurde es dann in der israelischen Zeitschrift »Ami« herausgebracht, ehe dann Übersetzungen im Westen folgten und es 1988 erst in der Sowjetunion öffentlich auslag. Entstanden ist Jerofejews bekanntestes Werk 1969, der Autor arbeitete währenddessen als Monteur beim Fernmeldewesen, und war ursprünglich nur für seine Freunde gedacht. Überhaupt hat Jerofejew ein eher untypisches Literatenleben hinter sich. Der belesene, intellektuelle Mann, der Alkoholiker war, in der Psychiatrie behandelt wurde und an Kehlkopfkrebs starb, verdiente sein Geld unter anderem als Heizer, Wärter, an der Pfandflaschenannahme oder Straßenarbeiter.

Die Story ist rasch erzählt: Wenja (Verniedlichung von Wenedikt), arg lädiert von der Zeche vom Vortag, steigt am Kursker Bahnhof ein, um von Moskau ins paradiesische, ländliche Petuschki zu reisen und die dickleibige, rothaarige Liebste samt Sohn zu besuchen. Sein Gepäck enthält vor allem eins: Wodka und anderen Fusel. Wenjas Durst ist nicht zu löschen und erwacht. »Ich trank unverzüglich.« Zwischen den einzelnen Stationen erzählt Wenja, offenbart Rezepte einiger Drinks (50g Weißer Flieder + 50g Antischweißpuder + 200g Shiguli-Bier + 100g Spritlack = Geist von Genf), trifft andere Fahrgäste, hält Monologe, phantasiert und wird nie am Reiseziel ankommen.

Jerofejew bedient sich dabei auffällig oft der Bibel. Er beschreibt, wie er von seinem Brigadiersposten gefeuert wurde und welche Arbeitsmoral herrschte, – statt zu arbeiten wurde getrunken und gespielt, und warum er nie wieder die Karriereleiter hinaufsteigen will: »Die Kreuzigung erfolgt genau dreißig Tage nach der Himmelfahrt.« Auch über sein Trinkverhalten verliert er, anfangs als sein Gehirn noch einigermaßen funktionstüchtig und der Pegel noch human ist, einige Wörter:

Aber vor allem sind da »Schmerz und Angst«. Nennen wir es wenigstens so. Ja, vor allem »Schmerz« und »Angst«, und dann noch Stummheit. Jeden Tag, vom Morgen an, läßt mein goldenes Herz diesen ätzenden Aufguß in sich hineinsickern und badet sich darin bis zum Abend. Bei anderen Leuten passiert so was bekanntlich dann, wenn ganz plötzlich jemand stirbt, wenn der liebste Mensch auf der Welt stirbt. Aber bei mir ist das ewig so! Begreift wenigstens das! Wie sollte ich da nicht langweilig sein, und wie sollte ich da nicht Wodka trinken? Ich habe mir dieses Recht verdient. Ich weiß besser als ihr, daß der Weltschmerz nicht etwa eine Fiktion ist, die von den altern Literaten in Umlauf gebracht wurde. Ich weiß es, weil ich den Weltschmerz selbst im Herzen trage. (S. 43)

Je länger die Fahrt andauert, umso konfuser werden die Gedanken und die Gespräche mit den Passagieren. Es finden Begegnungen z.B. mit Erinnyen (Rachegöttinnen aus der griechischen Mythologie), Mithridates VI. (König von Pontos) oder einer Sphinx statt, die Wenja einige Rätsel stellt (eine Legende besagt, dass wenn ein Reisender die Quiz nicht lösen kann, er von der Sphinx erwürgt werde).

Ich wurde wieder nachdenklich. Seltsame Gedanken gingen mir durch den Kopf. Sie kreisten um etwas, das selbst um etwas kreiste. Und dieses Etwas war auch seltsam. Und die Seele war schwer … Was tat ich eigentlich in diesem Augenblick? War ich im Begriff einzuschlafen oder war ich im Begriff aufzuwachen? Ich weiß es nicht, und woher sollte ich es auch wissen? (S. 145)

Freilich beanstandet Jerofejew und rüffelt. Seine Geliebte, selbst versoffen, soll für den Kommunismus stehen. Der Schaffner im Zug, ein Sinnbild für für die Korruption im Land, empfindet es als beleidigend, wenn seine Passagiere Fahrkarten kaufen. Vielmehr möchte er Spirituosen statt Tickets sehen, die er selbst wankend als Gegenleistung konsumiert. Anhand vieler kleiner Beispiele und Anspielungen führt der Autor die Sowjetunion immer wieder ad absurdum. Jewgeni Popow hielt in seinem Nachruf fest, dass Jerofejew dadurch dem Wort Volksnähe seinen ursprünglichen Glanz wiedergab, »den Glanz eines geschliffenen Glases, das von fettigen Betrügerfingern befleckt worden war«.

Und dort, aus der Ferne, wo der Nebel beginnt, kamen zwei Kolosse auf mich zugeschwommen. Es waren der Arbeiter mit dem Hammer und die Kolchosbäuerin mit der Sichel aus der Skulptur von Muchina. Sie kamen ganz nahe an mich heran und grinsten. Der Arbeiter versetzte mir mit dem Hammer einen Schlag auf den Kopf, und die Bäuerin schlug mir die Sichel in die Eier. (S. 150-151)

Jerofejew bezeichnet »Die Reise nach Petuschki« als Poem, doch es bleibt fraglich, was diese Lektüre so genau überhaupt ist. Er bemerkt selbst, dass er philosophische Essays, Memoiren, Gedichte in Prosa (wie Iwan Turgenjew) und weitere Elemente anreiht: »Der Teufel weiß, in welchem Genre ich heute Petuschki erreichen werde.« Oft lacht man dank der Komik und Diffusität an vielen Stellen aus vollem Halse. Stellen, die die schwermütige russische Seele offenbaren oder Schiller, Goethe als durchtriebene Saufbrüder bezeichnen. Doch genau genommen entwickelt sich die Reise zu einer todtraurigen Angelegenheit ohne Happy End, sodass tragische Eindrücke überwiegen.

Am Ende angelangt, dröhnt ein wenig der Schädel, Katerstimmung macht sich breit. »Die Reise nach Petuschki« ist wie ein Cocktail. Wenedikt Jerofejew gibt Geschichte, Politik, Philosophie sowie Kunst hinzu und vollendet diese Mixtur mit einer ordentlichen Menge an Hochprozentigem. Dieses Gemisch hat einen außergewöhnlichen Geschmack, kann aber mit nüchternem Kopf als genial bezeichnet werden.

[Buchinformationen: Jerofejew, Wenedikt (1987): Die Reise nach Petuschki. Piper Verlag. Aus dem Russischen von Natascha Spitz. Titel der Originalausgabe: Москва — Петушки (1973). 169 Seiten. ISBN: 3-492-20671-9]

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