Von 1994 bis 1966 sowie 1999 bis 2009 dauerten die beiden Kriege in Tschetschenien an. Viele Tote. Verluste. Bilder der Zerstörung. US-Amerikaner Anthony Marra, der selbst in Tschetschenien studiert und sich mit der prekären Lage der Kaukasusrepublik beschäftigt hat, siedelt seinen Debütroman »Die niedrigen Himmel« genau dort an. Mitten in der aufgerissenen Wunde.
Im Wesentlichen tragen drei Figuren das Buch. Wäre da Achmed, der einzige Arzt in seinem Dorf Eldár, das fast komplett zerstört wurde. Nicht nur die Gebäude sind verschwunden, sondern auch viele dort einst beheimatete Menschen. Wobei Achmed die Bezeichnung Mediziner nicht ganz verdient hätte, der Romantiker wäre lieber Künstler geworden und versteht trotz seines Abschlusses nicht viel von der Heilkunde.
Er war ein unfähiger Arzt, aber ein anständiger Mann, glaubte er, der die Grenzen seines beruflichen Könnens durch die Einführung in seine Patienten, seine Einsicht in ihre Leiden, wettmachte. Als er an dem Feld vorbeikam, auf dem der gefrorene Wolfskadaver im Mondschein lag, musste er an Marx denken. Vielleicht war hier das Ende der Geschichte erreicht worden. Eine Gesellschaft ohne Klasse, Eigentum, Staat oder Recht. Vielleicht war dies das Ende. (S. 54)
Trotzallem praktiziert er, so gut er kann, kümmert sich um seine psychisch kranke, bettlägerige Ehefrau und genießt Respekt im Ort. Die zweite zentrale Person ist Hawah, die kleine Tochter seines besten Freundes und Nachbarn, der denunziert, verschleppt und dessen Haus in Brand gesetzt wurde. Hawah rettet sich, dennoch sind die Russen hinter ihr her und Achmed deckt sie. Gemeinsam wandern sie in die Stadt Woltschansk und ins Krankenhaus, in dem Sonja arbeitet und wo sich Achmed Schutz erhofft.
Die talentierte und hochausgebildete Sonja ist der einzige verbliebene Doktor dort und amputiert fleißig Körperteile. Im Gegensatz zu Achmed versteht sie ihr Handwerk und wäre lieber weiter in London geblieben. Doch wie bei den anderen Protagonisten hat sie auch Schicksalsschläge erleiden müssen. Verzweifelt sucht sie nach ihrer Schwester Natascha, die im ersten Tschetschenien-Krieg zur Zwangsprostituierten und zum Drogenwrack wurde. Hawah, Sonja und Achmed raufen sich nach anfänglichen Problemen zusammen: Es bestehen Verbindungen zwischen ihnen und ein jeder kann dem anderen helfen.
Anthony Marra baut in seinem Roman ständige Rückblenden ein. Sie reichen von 1994, gehen bis zum Jahr der Handlung, 2004, und dienen dazu, die Entwicklung der Charaktere zu verstehen. Überhaupt schafft es Marra in einem kühlen, aber dennoch poetischen Ton, das Szenario zu beschreiben. Ein Szenario, in dem Freunde zu Feinden werden, Verrat begehen und ein Vater sich von seinem Sohn abwendet. Wofür es anfangs keine Erklärungen gibt, zeigt er später rationale Gründe für derartiges Verhalten auf. Grausame Szenen, wie verkohlte Leichen, die auf der Straße liegen oder wie Hawahs Vater Dokka gefoltert wird, bis ihm schließlich alle zehn Finger abgetrennt werden, prägen das Bild (»Wie einen dicken Fang beim Angeln hielt er eine rote Plastiktüte hoch. In dem Blut schwammen zehn Finger. »Die kriegt dein Freund zurück, wenn ich die restlichen fünfundzwanzigtausend habe«, sagte der Vernehmungsoffizier mit den weniger glänzenden Schuhen.«) … es fehlt nur die Vorstellungskraft. Auf der anderen Seite finden sich Dialoge, die nur so von Humor strotzen. Diese Kontraste ergänzen sich allerdings unerwartet.
Die Individuen werden entmenschlicht. Organisation ist nicht mehr vorhanden. Gesetze sind außer Kraft gesetzt, genau wie Strom- oder Wasserleitungen. Und dennoch geht das Leben weiter, ist noch nicht am Endpunkt angelangt, während die Erde sich noch dreht. Keine Schonung darf sich der Leser erhoffen – Kaltes trifft auf Brutales und erzielt eine Mischung, die Schmerzen erzeugt. Trotzallem erscheinen Lichtblicke in der Tristesse. Hoffnung, Zukunft und Aussicht existieren, zwar nur gering, aber dennoch. Liebe und Empathie können trotz aller Gewalt nicht ausgelöscht werden, das verinnerlichen Hawah, Achmed und Sonja, das ungleiche Trio.
Er stellte sich vor, wie sie jetzt gerade Sonja nervte, sie fragte, warum Kot braun war und was es mit Löchern im Bauch auf sich hatte, so jung und dumm und intelligent. Sie war ein Kind ohne Eltern, und er war ein Mann ohne Kinder. Zehn Jahre zuvor hätte er sich nicht vorstellen können, sie zu adoptieren, aber die Regeln jener Gesellschaft galten nicht mehr. Es gab niemanden mehr, der einem sagte, wen man lieben durfte. (S. 373)
»Die niedrigen Himmel« ist ein eindrucksvolles und tiefergreifendes Debüt. Es zeigt die Kehrseite vom Krieg, richtet sein Fernglas und damit den Fokus auf einige liebenswerte Individuen, die sich trotz der umgebenden Herzlosigkeit krumm stellen und durch ihre menschliche, aufopfernde Hingabe schließlich zu Helden werden. Anthony Marra überzeugt nicht nur sprachlich und hat mit seiner zerreißenden Geschichte ein Glanzstück kreiert.
[Buchinformationen: Marra, Anthony (Februar 2014): Die niedrigen Himmel. Suhrkamp Verlag. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach & Stefanie Jacobs. A Constellation of Vital Phenomena (2013). 489 Seiten. ISBN: 978-3-518-42427-8]
[Anmerkung: Weitere Rezensionen finden sich bei Buzzaldrins Bücher, Coffee and Books, BirthesLesezeit und Seitenende.
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