Hertzko Haft (*1925 – †2007), der sich später in den USA Harry Haft nennt, hat den Holocaust überlebt. Rund sechs Jahrzehnte nach den Deportationen schildert er im Alter von 78 Jahren seinem ältesten Sohn Alan Scott Haft die unglaubliche Lebensgeschichte, die eng mit der Häftlingsnummer 144738 verbunden ist. Alan Scott schreibt diese Biografie 2003 auf und bringt sie unter dem Titel »Eines Tages werde ich alles erzählen: Die Überlebensgeschichte des jüdischen Boxers Hertzko Haft« heraus. Als der deutsche Autor und Illustrator Reinhard Kleist, der durch Werke wie »Cash – I see a darkness« (2006) oder »Castro« (2010) international für Furore sorgt, über den Werdegang von Hertzko Haft stolpert, ist dieser sofort hin und weg und setzt sich in Zusammenarbeit mit Alan Scott Haft an eine Graphic Novel. Kleists »Der Boxer« (2012) schlägt hohe Wellen, wird mit dem Jugendliteraturpreis 2013 (Kategorie Sachbuch) ausgezeichnet und für zahlreiche Länder (u.a. USA, Brasilien) übersetzt.
Miami 1963. Mal wieder wundert sich der junge Alan während einer Autofahrt über die Charaktereigenschaften des Vaters Hertzko, der durch seinen Jähzorn und den Wut- und Gewaltausbrüchen alles andere als ein Papa-Idealbild widerspiegelt. Plötzlich bricht Hertzko auf dem Lenkrad zusammen. Weint. Bedankt sich, dass der Sohnemann mitgekommen ist. »Später werde ich dir alles erzählen«, heißt es. Dann beginnt die wahre Geschichte des Hertzko Haft.
Im März 1939 marschieren die Deutschen in Bełchatów ein. Hertzko ist 14 und muss Produkte über die Grenzen schmuggeln, um die Familie über Wasser zu halten. Fortan verändert sich das Leben in der Stadt. Den Juden wird alles genommen, sie werden in ein Ghetto eingepfercht. Dann springt Hertzko unfreiwillig für seinen größten Bruder Aria ein. Dieser will sich zur Lagerarbeit melden, genommen wird der Kleine, obwohl er Aria von seiner Entscheidung lediglich abhalten will.
Hertzko kommt in die Arbeitslager Poznan und Strzelin. Im ersten Lager freundet er sich mit dem Vorarbeiter Kareller an, über den er Briefe an seine Freundin Leah schicken kann. Mit Kareller reist er nach Bełchatów, um Geschäfte zu tätigen, findet dort aber seine Verwandten nicht. Das Kartenhaus stürzt zusammen. »Ich hatte jegliche Hoffnung verloren, jemanden aus meiner Familie lebend wiederzusehen. Für mich gab es keinen Gott mehr.«
Der pubertierende Hertzko muss sich endgültig von seiner Kindheit verabschieden. Er wirkt um zehn Jahre gealtert, psychisch sowieso physisch am Ende. Im KZ Auschwitz arbeitet er im Krematorium, resigniert und wird dafür fast erschossen. Ein gewisser SS-Offizier namens Schneider nimmt ihn unter seine Fittiche, versetzt ihn ins Kanada-Kommando, bei dem er die Wertsachen der Insassen einsammelt. Schneider hat einen Hintergedanken, Hertzko soll für ihn einige wertvollen Steine in einer Flasche heimlich sammeln. Dank Schneider verbessert sich Hertzkos Zustand. Der fast zum Muselmann gewordene Junge nimmt zu – sodass er dafür in seiner Baracke als der dicke Jude bezeichnet wird. Später pocht er darauf, dass Hertzko nach der Befreiung für ihn aussagen soll.
Schneider hat noch mehr mit seinem Auserwählten vor: Hertzko, mittlerweile seinem Bruder Peretz im KZ begegnet, soll in einem Außenlager gegen andere Häftlinge boxen. Die vergnügten SS-Offiziere schauen zu, schließen Wetten ab. Es sind Kämpfe um Leben und Tod. Der Sieger darf weiterleben, der Verlierer wird getötet. Hertzko bleibt 76 Mal ohne Niederlage, bekommt den Titel, das jüdische Biest verliehen.
Nach vier Jahren Leiden rücken die Alliierten vor und die Todesmärsche beginnen. Er seilt sich ab und begeht hinterher noch zwei Morde. Mit 23 Jahren reist er in die USA. Zum einen verfolgt er das Ziel, dort Boxer zu werden. Zum anderen will er seine Jugendliebe Leah aufspüren. Hertzko, der als der Boxchamp aus den Todeslagern angekündigt wird, heimst erste Erfolge ein und steht im Ring sogar dem legendären Rocky Marciano gegenüber, der heute immer noch einen Rekord hält. Niemand konnte den Schwergewichtsweltmeister je bezwingen. Der Plan, populär zu werden, damit Leah auf ihn stoßen kann, geht nicht auf. Vergeblich wartet Hertzko auf ein Lebenszeichen von ihr, beendet die Box-Karriere und vermählt sich.
Der dritte Teil des Werkes schlägt den Bogen zum ersten. Alan kommt wieder ins Spiel, der Telefonbücher wälzen muss, da Hertzko nicht lesen kann. Alan findet tatsächlich Leah, woraufhin Hertzko, der mittlerweile einen Laden führt, gemeinsam mit seiner Familie nach Florida reist. Der Urlaub ist getarnt, da er nur eins will: Leah dort zu besuchen. Es kommt zum traurigen Wiedersehen – ohne Happy End.
In der Tat lassen sich Parallelen, zu Art Spiegelmans »Maus« finden. »Der Boxer« erzählt ebenso von einem Shoah-Überleben. Reinhard Kleist kann damit allerdings wesentlich distanzierter umgehen, da er anders als Spiegelman nicht involviert in die Geschichte ist, sich lediglich an die Vorlage hält. Aufgezeigt wird ähnlich wie bei der »Maus«, welche Narben in den Seelen nach der Befreiung entstehen.
Hertzko Haft begegnen bei den Nachwehen stets Albträume, die mit den Konzentrationslagern verbunden sind. Auch sieht er bei den professionellen Box-Kämpfen in seinen Gegnern KZ-Häftlinge vor sich. Obwohl er das Volksverbrechen überstanden hat, komplett geheilt davon werden kann er nicht mehr. Der Umgang mit seinen Kindern ist kritisch. Eine richtige Vaterrolle füllt er nicht aus. Erst später, als Hertzko seine Vergangenheit offenbart, werden sie verstehen, warum er so ist, wie er ist. Wo der Ursprung liegt.
Reinhard Kleist verwendet keine Farben in seinem Werk, das deswegen umso bedrückender erscheint und nur mit Tusche und Pinsel angefertigt wurde. Die Darstellung der KZ-Insassen – irgendwann lassen sie sich aufgrund der Umstände nicht mehr differenzieren – gelingt ihm besonders. Sie erinnern ein wenig an die Zeichnungen von Marian Kołodziej. Menschen wurden von Unmenschen entfremdet, eindrücklicher kann diese These durch Kleists Illustration nicht bestätigt werden.
Hertzko Haft schändete sich nicht nur bei der Zwangsarbeit fast zu Tode, gleichzeitig war er Teil eines perfiden, sadistischen Spektakels, das ihn selbst zum Mörder Widerwille machte. Er überlebte hierbei vor allem dank seiner boxerischen Fähigkeiten, obwohl er vorher nie länger die Handschuhe schnürte, und seinem Lebensmut. Hafts Schicksal war allerdings kein Einzelfall wie Martin Krauß im dokumentarischen Anhang zu Protokoll gibt. Weltklassesportler wie der frühere Fliegengewichtsweltmeister Victor »Young« Perez (sein Leben wurde verfilmt) oder Ranglistenboxer Leone »Lelletto« Efrati wurden wie viele andere Boxkollegen ebenso inhaftiert und mussten sich als Gladiatoren behaupten.
Reinhard Kleist gelingt mit »Der Boxer« ein Meisterstück, das tief eindringt und nachhaltig Spuren hinterlässt. Hafts Geschichte ist genauso erstaunlich wie Kleists effektvolle Illustration, die unglaublich wirksame Konsequenzen zutage bringt. »Der Boxer« zermürbt und trifft einen – hart wie ein unerwarteter Schlag in die Magengrube.
[Buchinformationen: Kleist, Reinhard (2012): Der Boxer. Die Überlebensgeschichte des Hertzko Haft. Carlsen Verlag. 176 Seiten. ISBN 978-3-551-78697-5]
[Anmerkung: Weitere Rezensionen zu »Der Boxer« bei ComicKunst und Israelogie.]
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