Immer wieder in Strömen. Immer wieder sich ins Lebensgehfahr begebend. Alles nur aus existenziellen Gründen. Nach dem letzten Strohhalm greifend. Flüchtlinge, die aus Afrika die Überfahrt ins rettende Europa wagen. Von diesem Traum, den ärmsten Kontinent der Erde zu verlassen, Wohlsein in der EU zu erlangen, schreibt Fatou Diome, die ihre Wurzeln im Senegal hat, mittlerweile aber im französischen Straßburg lebt, in ihrem Debütroman »Der Bauch des Ozeans«.
Die Ich-Erzählerin ist die große Schwester von Madické und wanderte nach Frankreich aus. Ihr kleiner Bruder hat derweil nur zwei Gedanken im Kopf. Seinem italienischen Fußball-Idol Paolo Maldini unterstützend an dem einzigen Fernseher im Dorfe zur Seite zu stehen und ihm auf dem Feld nachzueifern. Madické will hoch hinaus. So hoch hinaus, damit er Senegal sowie seine Insel Niodor verlassen, bei einem französischen Verein anheuern und alles Elend hinter sich lassen kann. Ohne Fleiß kein Preis. Täglich jagt er dem Ball hinterher und lernt fleißig die Sprache der Weißen. »Auswandern war das Leitmotiv für seine Zukunft, sein gesamtes Leben.«
Nichts kann ihn an der Verwirklichung hindern. Nicht sein Lehrer Monsieur Ndétare, der ihm die Geschichte von einem ihm bekannten Jungen erzählt, der es durch den Fußball tatsächlich bis nach Frankreich schaffte. Von dort dann ausgenommen und gebeutelt wieder zurück gehen musste. Zur Schande für seine Gemeinde wurde und dann Suizid im Atlantik begann. Nicht seine Schwester, die ihn ausdrücklich davor warnt, dass dort keineswegs alles so rosig ausschaut.
Madické und seine Freunde sind geblendet. Geblendet von Märchengeschichten, die der Dorf-Prolet immer wieder auspackt. Der als reicher Mann aus Frankreich wiederkam, aber keinen klaren Wein einschenkt. Sich stattdessen profiliert, seine Taten im Land der Träume in den Himmel lobt, wo er in Wirklichkeit selbst am Hungertuch nagte und Drecksarbeit verrichten musste. So manifestiert sich die Legende vom Schlaraffenland, in dem man sich wie Ludwig XIV fühlt und Madické fordert seine Schwester auf, ihn zu sich zu holen.
Die Dritte Welt ist mit ihren Wunden so geschlagen, dass sie die Wunden Europas nicht sieht; ihr Schrei übertönt den der anderen. Wenn sie das Elend im Westen erkennen könnte, gingen ihre Flüche ins Leere. […] In einem reichen Land zu leben, hielt Madické für ein unermessliches Privileg. (S. 45)
In »Der Bauch des Ozeans« steckt reichlich, rundumschlagende Kritik. Fatou Diome rechnet mit der Einstellung und Kultur ihres Volkes ab. Mit Männern, die auf einem »Thron hoch über der weiblichen Welt« sitzen. Mit der Polygynie, die die Frauen extrem abstufen und ersetzbar machen lässt. Mit den hohen Geburtenraten, die sich dadurch ergeben, weil keine Verhütung akzeptiert wird.
Was wird aus dieser Kinderflut, diesen Regimentern, die von Aids, Ruhr, Malaria und den Plagen der Ökonomie aufgetrieben werden? Entwertung! Sie zerstören unser Geld, unsere Zukunft, unser Leben! Auf der Waage der Globalisierung wiegt der Kopf eines Kindes aus der Dritten Welt weniger als ein Hamburger. Und die Frauen machen immer weiter! Blind oder verblendet rennen sie wie Opferlämmer zum Altar der Mutterschaft, zu Ehren eines Gottes, der ihnen als Existenzberichtigung einzig ihre Eierstöcke in die Wiege gelegt hat. Diese Mütter sind das Kanonenfutter an der Front der Armut […]. (S. 196/197)
Unheimliche Bilder kreiert die Autorin, wenn sie schildert, wie Männer frischgeschlüpfte (uneheliche) Babys im Meer ertrinken, die nicht in das Schema F ihrer Planungen passen. Ebenso verstörend ist die Glaubenseinstellung in dem islamisch dominierten Staat. Der Koran wird nicht wahrheitsgetreu weitergegeben, stattdessen »folgen Massen von Menschen, die keine Ahnung haben, diesen dunklen Hirten wie Schafe«.
Weiter verdeutlicht sich die Schattenseite von Frankreich, wo der Rassismus immer noch nicht ausgetrieben worden sei, in dem die Migranten im gelobten Land »die Klümpchen sind, die ausgesiebt werden«. »Tanzt eure Bamboula doch unter den Bananenstauden.« Dass die Senegalesen wie Madické nicht nachhacken, ist dabei das größte Manko. Leichtgläubig bewegen sie sich, dass Paradies müsse einfach Paradies sein. »Wer von dort arm zurückkommt, muss schon ein echter Trottel sein.«
Eindringlich schildert die Autorin, wahrscheinlich autobiografisch geprägt, wie das lyrische Ich (ebenfalls eine Literatin) zu kämpfen hat. Sich weder in Afrika noch in ihrer neuen Wahlheimat wohlfüllt. Stets in beiden Lagern das jeweilige Positive, Negative sieht. »Das Heimweh ist meine offene Wunde, in die ich meine Feder tauche.« Sich nirgends zugehörig, in der Schwebe befindend fühlt.
Es sind diese kritischen Töne, auf denen die Pfeiler von »Der Bauch des Ozeans« gebaut sind. In der Tat kann der Aufbau des Buchs angekreidet werden. Im Aufbau und Schluss steckt etwas zu viel ausufernder Fußball, selbst wenn dieser die jungen Senegalesen aus der Misere holen kann. Ferner hätten Figuren wie Madické noch mehr Substanz gebrauchen können.
Gewagt falsifiziert Fatou Diome die Annahme vieler ihrer Landsmänner. Gekonnt stellt sie die Gesellschaften gegeneinander und vergleicht Missstände. Ihr Dorn im westafrikanischen Auge: die mangelnde Entwicklung der Individuen, das Festhalten an altertümlichen Prinzipien und genauso das ich-sehe-nur-das,-was-ich-sehen-will. Fatou Diome hat ein aufwühlendes Debüt angefertigt, das für geraume Weile zu bedenken gibt.
[Buchinformationen: Diome, Fatou (2004): Der Bauch des Ozeans. Diogenes Verlag. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Titel der Originalausgabe: Le Ventre de l’Atlantique (2003). ISBN: 978-3257235210]
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Hallo Leute. Es ist mit Vergnügen, dass ich die Zusammenfassung gelesen habe. Ich finde dieses Buch sehr interessant, zu lesen. Durch mein Lesen habe ich viele Themen und Ausdrücke herausgefunden. Es hat mich sehr gefreut.
Aber aus meiner Perspektive heraus möchte ich fragen, wo kann ich das Buch kaufen?
Ihr José.
Herzliche Grüsse !