Drehbücher zu »Troja« oder »X-Men», Produzent der erfolgreichen Fantasy-Fernsehserie »Game of Thrones» und hinzu auch noch Schriftsteller. Der US-Amerikaner David Benioff hat schon ordentlich was um die Ohren. »Stadt der Diebe« ist der zweite seiner drei bisher herausgebrachten Romane. Handlungsort: Leningrad, das heutige Sankt Petersburg, während des 2. Weltkriegs. Der Roman soll die Geschichte des Großvaters von Benioff nacherzählen, heißt es einleitend. In Wirklichkeit handelt es aber um einen fiktiven, ausgedachten Text, der nicht annähernd autobiografisch gefärbt ist.
Lew steht täglich auf dem Dach seines Wohnkomplexes. Er mimt eine Art Feuerwehrmann, der die von der deutschen Artillerie abgeworfenen Zündkörper wieder löschen muss. Seine Familie hat die Stadt bereits verlassen. Hunger und der kalte russische Winter sorgen für Leid. Dann sieht er, wie ein Nazi mit seinem Fallschirm nahe seines Blocks landet. Dieser ist bereits tot. Gemeinsam mit seinen Freunden plündern sie, suchen bei ihm nach Essensresten, Wertgegenständen. Plötzlich kommt das NKWD um die Ecke und verhaftet ihn wegen Diebstahls. Lew hat genau wie sein neuer Kumpane Kolja, der als potentieller Deserteur abgeführt wird, Glück – beide werden nicht sofort erschossen, sondern eingesperrt.
Vor dem Oberst müssen sie sich behaupten. Wie es der Zufall so will, begnadigt das hohe Tier beide. Jedoch nur unter einer Bedingung: Sie müssen in wenigen Tagen zwölf Eier herholen, da sonst die Hochzeitstorte seiner Tochter nicht gebacken werden kann – und in ganz Leningrad soll es die Geflügelprodukte nicht mehr geben.
Wir hatten Strafaufschub erhalten. Das Leben war uns zurückgegeben worden im Austausch gegen eine einfache Aufgabe. Eine merkwürdige Aufgabe, mag sein, aber doch recht einfach. (S. 61)
Kolja und Lew begeben sich auf die vergebliche Suche. Stoßen auf Kannibalen, die in ihrer Wohnung Menschenfleisch zubereiten, um es zu verkaufen. Kaufen einem Jungen, der psychisch am Ende ist, ein Huhn ab, unwissend, dass es sich um einen Hahn handelt. Bis sie irgendwann merken, Petersburg verlassen zu müssen, um weiter außerhalb die goldenen Eier auftreiben zu können. Mit einem Passierschein vom Oberst kommen sie durch die russischen Abwehrmauern durch und bewegen sich schließlich auf gefährlichem, feindlichem Nazi-Gebiet.
Ja, der Roman wirkt tatsächlich an einigen Stellen arg konstruiert, mit viel Fantasie versehen, wie zum Beispiel an der Stelle als sie dem SS-Sturmbannführer begegnen. Dient vielleicht auch nicht nur dazu, die Ausmaße des Kriegs haargenau zu skizzieren. Es sind die gegensätzlichen Figuren Lews und Koljas, die »Stadt der Diebe« besonders machen.
Der skeptische Lew, dessen Vater als Dichter der Intelligenzija im Arbeitslager endete, befindet sich mit seinen zarten 17 noch in der Pubertät. Erfahrungen mit Mädchen hat er bisher keine gehabt. Sein Auftreten wirkt verunsichert und misstrauisch. Im Gegensatz dazu Kolja, der in den kritischsten Situationen einen kühlen Kopf bewahrt, dem die Frauen zu Füßen liegen, der jede herumbekommt, ein kommunikativer, charismatischer Typ ist. Dem das Adrenalin nicht durch den Körper schießt, wenn er sich in einer hoffnungslosen Lage befindet.
Eine offensichtliche Schwäche hat Kolja allerdings. Er arbeitet an seinem eigenen Roman »Der Hofhund«, zitiert daraus und preist ihn in vollen Zügen an; absoluter Klassiker, mit das Beste aus der russischen Literatur, noch besser als Iwan Gontscharows »Oblomow«. Erwähnt dabei allerdings nicht, dass er der Autor ist, sondern versteckt sich hinter dem Pseudonym Uschakowo. Erst später wird Lew erfahren, dass Kolja strategisch vorgegangen ist und kaum Kritik an seinen Fähigkeiten als Schriftsteller vertragen kann.
Mitunter mausert sich »Stadt der Diebe« auch zu einem Coming of Age-Roman, wenn Kolja Lew in Sachen Frauen lehrt: »Das Geheimnis dabei, eine Frau zu erobern, ist geflissentliche Nichtbeachtung.« Jugendliteratur, Kriegsliteratur, Abenteuer sowie Literatur über Literatur – es lassen sich mehrere Aspekte finden, was »Stadt der Diebe« zu einem multilateralen Unterfangen macht, unter Einbezug der vielleicht wichtigsten Themen des Lebens: Tod, Liebe, Freundschaft.
David Benioff greift den 2. Weltkrieg anormal und leichtblütig auf. Es ist eine kurzweilige Geschichte, aber mehr als über Unterhaltung geht sie dann doch nicht hinaus. Dafür sind Ausschnitte doch einen Ticken zu berechenbar gezeichnet. Aber Vergnügen hat man, bei dem eigentlich viel zu ernsten Thema.
[Buchinformationen: Benioff, David (2008): Stadt der Diebe. Karl Blessing Verlag. Aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner. Titel der Originalausgabe: City of Thieves (2008). 384 Seiten. ISBN-13: 978-3896673947]
Mich hat diese Geschichte sehr beschäftigt. Ich kann nicht glauben, dass der Autor den 2. Weltkrieg … leichtblütig aufgreift. Eher habe ich die Geschichte als Gleichnis auf die Menschlichkeit verstanden.
http://allesmitlinks.wordpress.com/2012/01/29/stadt-der-diebe/
Liebe Grüße, mick.
Deine Besprechung war im Vorfeld auch der Grund dafür, sich endlich mal damit zu beschäftigen 😉
Zum Adjektiv „leichtblütig“: Sicherlich, die ganzen Beschreibungen des Hungers, der Kälte, der Folgen, die ein derartiger Krieg automatisch mitbringt, treffen nicht darauf zu. Ohne Frage. Wenn Kolja dann allerdings über sein nymphomanes Verhalten erzählt oder darüber philosophiert, was mit seinem Stuhlgang passiert, weil er seit Tagen nicht musste, ordne ich das dann doch eher der Kategorie „leichtblütig“ zu. Es überwiegt, dass ich vor allem den wunderbaren Humor mitgenommen habe. Von daher… Dass es als Gleichnis auf die Menschlichkeit verstanden werden soll, darüber müsste ich ein wenig mehr nachdenken – aber interessanter Ansatz!
Lieber Muromez,
verzeih mir, das ich noch einmal insistiere.
Erstens: nymphomanes Verhalten wird – wenn überhaupt noch – dann Frauen zugeschrieben.
Zweitens: Kolja ist noch ein Kind. Der weiß überhaupt nicht wovon er spricht. Will aufschneiden und sich was beweisen. Solches soll beim Erwachsenwerden schon mal vorkommen – zumal wenn man von seinen Eindrücken überfordert wird.
Davon allerdings gibt es in dieser Geschichte ja reichlich. Das, was die beiden da durchleben müssen, ist schon abstrus. Leichtblütig finde ich da nichts.
Aber das ist ja nur meine Meinung.
Liebe Grüße, mick.
Im Gegenteil danke für die Intervention 😉 Mal wieder was dazugelernt, wobei der Begriff ‚Nymphe‘ eigentlich auch darauf hindeutet – hätte mal die Suchmaschine anschmeißen müssen. Bei Männern handelt es sich demnach eher um Hypersexualität oder Satyriasis.
Bester Muromez, ich muss mich mickzwo anschließen: Für mich war „Stadt der Diebe“ mehr als nur Unterhaltung. Der Roman zählt zu meinen Alltime-Favorits.Okay, er ist vielleicht etwas hollywoodglammy, aber genau das finde ich so wunder,wunderbar daran: Dass ich mich absolut irrational in die Figuren und diese Geschichte verliebt habe, die so viel größer, tragischer und poetischer als das Leben selbst ist. Lg, Karo
Hmmm, also ich nicht weiß nicht. Aber irgendwie habe ich es ein wenig anders rezipiert. Möglicherweise war ich etwas beeinflusst davon, dass es sich – entgegen der Annahme – um keinen autobiografischen Text handelt, da ich in den letzten Monaten viel Zeitzeugenberichte las und es an denen gemessen haben könnte.
Meine Eindrücke waren auch eher zwiespältig: Einerseits natürlich handwerklich gut gemachte Handlung, andererseits etliche Klischees und eine merkwürdige Munterkeit (http://phileablog.wordpress.com/2012/12/18/die-stadt-der-diebe/). Liebe Grüße
Petra