Der Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2013 heißt Brasilien. Deshalb ist es nicht ganz verwunderlich, dass man hierzulande über den einen oder anderen brasilianischen Autoren stoßen wird, über den man vermutlich nie gestolpert wäre. Einer davon trägt den Namen Daniel Galera, hat in seiner Heimat bereits drei Romane unter das Volk gebracht. »Flut« ist das erste Werk von ihm, das nun auf Deutsch übersetzt und veröffentlicht wurde.
Ein letztes Mal sieht der Hauptdarsteller in »Flut« seinen Vater. Dieser erklärt ihm geradeaus, dass er sich mit einer Kugel das Hirn herausblasen wird. Aufgrund einer schwerwiegenden Krankheit keinen Lebensmut mehr in sich trägt und einfach nur noch ganz weit weg will. Die letzte Bitte: seinen treuen Gefährten, den Hund, einschläfern zu lassen. Der Sohn lässt ihn gewähren, behält allerdings den Vierbeiner und erfüllt seinen Wunsch nicht.
Nicht nur, dass der Papa Suizid begeht, auch sonst stimmt im Leben des Mannes nicht viel. Seine Freundin hat ihn verlassen und sich stattdessen seinem Bruder, dem Schriftsteller, angeschlossen. Was tun also?
Kurz vor seinem Tod erzählte ihm der Vater, dass sein eigener hünenhafte Dad in Garopaba abgestochen wurde und ums Leben kam. Der Leichnam wurde nie gefunden. Instinktiv begibt sich der Sohn an diesen Ort, um zu erfahren, was mit seinem Opa geschehen ist. Um Ursachenforschung zu betreiben. Dabei hat der Sportler und Triathlet eine seltene und seltsame Krankheit. Er kann sich keine Gesichter merken, sein Gehirn scheint sie, seit der Geburt nicht behalten zu können. Da er bemerkt, dass er seinem Großvater auf einem Bild ähnlich sieht, treibt dies seine Spürnase an.
Sehen tue ich alles. Aber ich kann es mir nicht merken. Mein Gehirn kann es nicht speichern. Der Teil, der für die Erkennung von Gesichtern zuständig ist, funktioniert bei mir nicht. Sobald ich dich aus den Augen verliere, hab ich nach fünf Minuten vergessen, wie du aussiehst, oder nach zehn, oder einer halben Stunde, wenn ich Glück habe. Da kann ich nichts gegen machen. (S. 76)
Im Touristenort Garopaba bezieht er eine Wohnung am Meer, lässt sich einen Bart wachsen, findet Saufkumpanen, beginnt zwei Affären, arbeitet nebenbei als Sportlehrer, schwimmt und taucht im Ozean. Kümmert sich um den Hund, der dort fast umkommt und in dem der Vater sozusagen weiterlebt. Stellenweise vergräbt er sich in seiner Bude, denkt über den Sinn des Lebens nach, beobachtet die grenzenlose Natur oder verausgabt sich bis zur Erschöpfung im Meer.
Ihm gefiel der Gedanke an Götter, die einem ins Ohr flüstern, was einem noch alles widerfahren würde. Er glaubt nicht wirklich daran, in seinem Herz ist kein Platz für Götter, aber er hat das Gefühl, dass es im normalen Leben etwas Entsprechendes gibt, einen natürlichen Vorgang, einen Mechanismus im Körper oder im Geist, der Dinge vorwegnimmt, die wir später als Schicksal bezeichnen können. Seiner Meinung nach funktionierte das Leben tatsächlich ein bisschen so. Im Großen und Ganzen weiß man schon, was passieren wird. Jeder Überraschung stehen Hunderte von Situationen gegenüber, in denen sich bestätigt, was man mehr oder weniger schon vorher wusste oder ahnte, wobei diese Tatsache meist unbemerkt bleibt. (S. 239)
Doch die abergläubischen Bewohner reagieren auf seinen Großvater skeptisch und mit Unbehagen. Dem Gaucho, wie er genannt wurde, hängt eine Aura des Bösen an, eine Art Fluch, über den man lieber nicht sprechen sollte. Dass treibt ihn allerdings an, weiter zu wühlen und das Geheimnis zu lösen.
Daniel Galera hat eine eigenbrötlerische Figur entwickelt, die nicht weiß, wohin mit sich. Die sich sortieren, definieren, ordnen und schließlich finden muss. Zudem mit dem paradiesischen Ort, der sich im Winter zur Depressionsfalle wandelt, ein Szenario erschaffen, das perfekt zu diesem sensiblen und komplizierten Menschen passt. Der keineswegs nur an sich denkt, aber sich irgendwie in die gesichtslose Gesellschaft nicht einordnen kann.
Nicht von ungefähr das Rätselraten um den Großvater. Denn schließlich ähnelt sein Aussehen ihm nicht nur, auch identische Merkmale sind vergleichbar, wie der Drang sein eigenes, ersehntes Leben zu führen. Denn eigentlich ist der Mann, dessen Name im Roman nicht zu erfahren ist, eins mit seinem Großvater.
Außerdem ist in »Flut« von Buddhismus, Reinkarnation, Staatsverbrechen, Drogenmissbrauch, Tier- und Naturquälerei die Rede. Daniel Galera ist unglaublich vielseitig wie der Körper eines Chamäleons. Serviert dabei die Handlung nicht auf dem Tablett. Vieles bleibt offen. Halluzinationen? Bewusstseinsstörungen? Wird der Held tatsächlich irgendwann im Meer sterben, wie er es vorausgeahnt hat? Dem Rezipienten werden unterschiedliche Lösungsansätze angeboten – welche er annimmt, bleibt seine Sache.
Mit »Flut« hat Daniel Galera einen starken, voluminösen und gleichzeitig gedämpften Roman vorgelegt, der es in sich hat. Nach der Beendigung der letzten Seite übertrumpft die Enttäuschung, ihn leider bereits inhaliert zu haben.
[Buchinformationen: Galera, Daniel (August 2013): Flut. Suhrkamp Verlag. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner. Titel der Originalausgabe: Barba ensopada de sangue (2012). 425 Seiten. ISBN: 978-3-518-42409-4]
Hab gerade gestern das Interview mit dem Autor und die Vorstellung des Buches in Druckfrisch gesehen und war sehr angetan – von Buch und Autor. Danke für die Besprechung, die mich in meinem Interesse noch bestärkt.
Es wunderte mich auch ein bisschen, dass der Feuilleton kaum auf den Roman eingeht, wobei er diese Besprechungen verdient!
Ansonsten bitte und viel Spaß damit. 🙂
Das Buch liegt bereits auf meinem Ungelesen-Stapel. Nach dieser schönen Besprechung wird es das wohl das Nächste sein, das ich lese…
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