Tito sei jemand, der den Haufen zusammenhielt. Danach ginge es bergab… Informierte mich ein überaus geschätzter Freund sowie Kenner, geboren im ehemaligen Jugoslawien. Das Hochkomplexe kann ich trotz zahlreichen Erläuterungen nicht ganz nachvollziehen, die Balkankonflikte. Auf politischer Ebene sowieso nicht. Großartig um Politik und Staatsoberhäupter geht es eigentlich auch gar nicht bei Marica Bodrožićs Debüt »Tito ist tot«.
Die Autorin, die in Svib im heutigen Kroatien geboren wurde und mit zehn Lebensjahren nach Deutschland zog, weckte gerade durch dieses einprägsame Interview mein Interesse. Die nicht missende Kindheit steht in den 24 Erzählungen im Vordergrund. In einer liebevoll verträumten, ausdrucksstarken und phantasiereichen Sprache, ausgestattet voller Poesie, schmückt sie Erinnerungen aus, die für sie ohnehin als Phänomen des menschlichen Geistes eine große Anziehungskraft ausüben, wie sie bei Buzzaldrins Bücher bemerkt. Naturell einprägsame Ereignisse, psychische Aktivitäten, Schicksale, vertraute Momente, Diskrepanzen.
Manchmal verlieren die Menschen ihre Erinnerung aus freien Stücken, manchmal wird sie ihnen geraubt. Aber immer verschwinden die Sätze einer Vergangenheit in kleine, abgedichtete Krater. Mit den Jahren wachsen sie zu Maaren heran. In ihnen lagern sich Tage und Nächte ab, die irgendwann in den Vulkanen des abgeschotteten Dunkels zu leben beginnen. Da werden Wörter zu Menschen und Menschen zu Wörtern, da beginnt ein Flimmern und Rauschen, das über die Meere hinwegzieht, Meere, in denen ganze Baumstämme von Generationen treiben. Hier, in der blauen Tiefe, am Grund des Gedenkens rutschen die Erinnerungen herum, auf Glatteis beförderte Lebensstücke. (S. 35/36)
»Wie ein Spiegel wirkt diese Prosa, ein zerbrochener Spiegel, der in hundert Splittern die Bilder von einst nicht mehr zu fassen vermag. Man spürt viel Sehnsucht und viel Melancholie«, schreibt Uwe Stolzmann in einer Rezension. Bodrožić projektiert unglaublich sanft. Ihre Stärke: Ausdruck. Ein ingeniöser. Wobei er mir ab und an zielgerichteter sein könnte, sich einen Haarspalt in seiner Poetik verstrickt. Oder mag ich es schlicht frugaler?
Lücken gibt es im Leben viele, Stellen, auf denen man nicht laufen, nicht stehenbleiben, über die man nicht reden kann, Stellen, die sich nur zum behutsamen Gleiten eignen, zu Orten werden, die ohne Bilder sind und Menschen beherbergen, die ohne Erinnerung leben. Still ist es dort, an diesen Orten, unheimlich, leise regt sich das herbstliche Blatt. Alle haben es gesehen, keiner sagt etwas, Blätter sind Gefahr, Blätter bewegen sich. Sie reden, direkt in die Gesichter der Menschen. Aber die Menschen schweigen, schauen in sich hinein, finden nichts, gehen nach außen, fürchten die Blätter und senken den Blick, bilderlose Augen, Linienmünder, wollen nichts sagen, schweigen, schweigen sich tot. (S. 103/104)
Divergent, eigen, anderswie sind Marica Bodrožićs Stücke, die nicht immer erreichen. Ihre Geistesgaben sind derweil absolut nachzuvollziehen. Die festgehaltenen als limitiert zu charakterisieren wäre beleidigend. »Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden«, konkretisierte Friedrich Schlegel, einer der Begründer der deutschen Romantik. Deswegen an dieser Stelle der wiederkehrende Gedanke, Grund genug sich da herauszuhalten.
[Buchinformationen: Bodrožić, Marica (2002): Tito ist tot. Suhrkamp Verlag. 154 Seiten. ISBN: 978-3518413081]
Die Meinung nach Tito alles den Bach runterging habe ich schon öfter von Einheimischen gehört. Die Rezension lässt mich hoffen das ich das Buch in der Bibliothek finden werde.
Hach, und ich habe noch immer nichts von Frau Bodrožić gelesen. Ich ahne, dass ich mich in ihrer Sprache auch nicht hundertprozentig wiederfinden werde – manchmal, wirklich nur manchmal sind mir ihre poetischen Worte ein wenig zu poetisch, zu zauberhaft, zu blumig. Doch die Themen, denen sie sich widmet, interessieren mich sehr – Erinnerung und Verdrängung, kulturelle, sprachliche und emotionale Grenzen, der Balkankonflikt und die Kindheit in Zeiten des Krieges. Sollte sie mir demnächst mal begegnen, werde ich sie mitnehmen. Danke, dass du mich an diese außergewöhnliche Schriftstellerin erinnert hast.
Manchmal wurde es mir auch „too much“. Ansonsten teile ich deine Meinung – ihre poetische Sprache ist mir ein wenig zu ausschweifend und überspitzt, wobei die Thematik mich generell ebenfalls anspricht. Extrem unschlüssig, ob ich mehr von ihr lesen werde…
Ansonsten: gern geschehen 🙂