Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht! Vier Brüder aus vier unterschiedlichen Ländern. Vier unwissende, aber gleichzeitig verbundene. Katalonier Jordi Puntí, der neben einem Erzählband (1997) ebenso den Roman »Erhöhte Temperatur« (2007) veröffentlichte, führt die Geschwister (Cristòfol, Christopher, Christof und Christophe) in »Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz« (ausgezeichnet mit dem »Booksellers’ International Book of the Year« (BIBY)) zusammen. Das Viergespann begibt sich auf die im Sand verlaufenen Spuren des Vaters. Jeder hat eine Geschichte zu erzählen. Gesehen haben sie ihn allerdings schon seit 30 Jahren nicht mehr. Die motivierten Detektive steigern sich partout in die Sache hinein: Gabriel Delacruz zu finden.
Mit der Vergangenheit gibt es ein Problem, Christofs: Sie ist unberührbar, und niemand vermag sie zu ändern. Doch während sie es uns gestattet, sie aus der Ferne zu betrachten, gewährt sie uns immerhin das Privileg der Allgegenwart. Als einfache Zuschauer können wir in ihr überall zugleich sein und darüber staunen, auf welch verworrenen Wegen sich die Schicksale kreuzen. (S. 476)
Informanten sind alte Weggewährten Gabriels, aber vor allem die Mütter der Christofs. Außerdem lässt es in einer Fundgrube stöbern, der verlassenen Wohnung Gabriels. In einem Waisenhaus wächst der spätere vierfache Vater auf und erkundet dann als Möbelpacker während des Franquismus Europa. Gabriel Delacruz liebt seinen Job, der ihm vor allem entgegenkommt. Dieser verkörpert sein Nomadentum. Sich nicht binden zu wollen. Frei von Konventionen zu sein.
Was Gabriel betrifft, muss ich euch enttäuschen: Ich habe nie wirklich verstanden, was ihn faszinierte an den Momenten, wenn wir wieder einen neuen Klingelknopf drückten. Ich habe da bloß eine vage Vorstellung, die ich mir aus meinen Eindrücken zusammenreime. Was ihn erregte, waren jedenfalls nicht solche fleischlichen Begierden wie bei Bundó und mir. Ich sehe Gabriel mehr als einen Vampir. Er trat in die Häuser anderer Leute ein und saugte die Atmosphäre auf – diese Gegenwart eines bestimmten Lebens, die sich in einer Wohnung unmittelbar vor dem Umzug noch deutlich spüren lässt: Gerüchte, Schatten, Gelächter, eine Kälte, ein Schweigen […] Es ist nur so, was ich mir so denke, aber ich würde sagen, diese Fantasie über den Alltag anderer Leute – mit denen er übrigens von Neuem begann, wenn wir mit den Möbeln in der neuen Wohnung ankamen, als das eine weiße Leinwand, die er zu bemalen hätte –, diese Fantasien ließen in freier Atmen. (S. 127)
Gemeinsam mit Bundó streift er durch die verschiedensten Länder und nach jeder Reise wird ein Karton aus dem Lastwagen beschlagnahmt, respektive als Diebesgut anerkannt, das letztlich aufgeteilt wird. Die Details des Inhalts werden in einem Büchlein stets festgehalten. »Entschuldigen Sie, aber diese Kiste, die verloren gegangen ist, hat sich nie in unserem LKW befunden.«
Häufiger macht Gabriel, »der passive Don Juan«, auch Bekanntschaft mit Frauen. Affären, seine Fruchtbarkeit und der Charme, der seine Aura umgibt, zaubern schließlich die Söhne herbei. Er lässt die Frauen samt Säuglinge allerdings im Stich.
Ihr kennt das ja, Christofs, wir haben schon mehrmals darüber gesprochen: diese bedrückende Einsamkeit, die uns manchmal überkam, als hätte das Leben gekündigt, und die sich einzig (und auch das nur im Glück) durch die Zuwendung der Mutter vertreiben ließ – oder eben durch die seltene Ankündigung, dass der Vater zu Besuch komme. (S. 241)
Erstaunlich sind die Situationen, auf welchem Wege Gabriel seinen Amouren begegnet. Eine umgarnt er mit seiner Präsenz auf einer Fähre. Sie arbeitet dort als Krankenschwester und untersucht Gabriel in ihrer Kabine etwas genauer. Eine andere ist Teil der Pariser 68er-Bewegung, flieht vor der Miliz und versteckt sich in einem Schrank vor ihr, den Gabriel gerade schleppt. Oder die Dame aus Barcelona, die sich zu Gabriel aufgrund von übereinstimmender Horoskop-Magie zugehörig fühlt.
Trotz der vielen Daten und dem Aufdecken, Gabriel ist kein offenes Buch. Die Stationen des Lebenskünstlers ein Rätsel, das die Nachkommen erst auf der Zielgeraden lösen werden.
Wir glauben, die Leute zu kennen, die uns umgeben, und ihre Gefühle einschätzen zu können, aber da täuschen wir uns gewaltig. Das Innenleben eines Menschen ist das bestgehütetes Geheimnis der Welt, ein Kämmerchen mit schwer gepanzerten Wänden. Im Lauf der langen Zeit, die wir Gabriel nun schon suchen, der unzählige Stunden, die wir damit verbracht haben, seine Wege nachzuzeichnen, bis zu dem Tag, da ihn der Erdboden zu verschlucken schien, fragten wir Christofs uns immer wieder: Kennen wir ihn nun wirklich? (S. 533)
Die Struktur, die Jordi Puntí seinem Roman gibt, kann als einfallsreich bezeichnet werden – sie ist außergewöhnlich. Gemeint damit, dass im Großen und Ganzen vier Erzähler (die Brüder) das Werk tragen. Ihre Schilderungen konstruiert Puntí kohärent. Etwas schwierig gestaltete sich der Einstieg in die »Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz«. Die Zusammenhänge waren erst mal zu begreifen. Gerade im sehr gelungenen Hauptteil, bestückt mit wunderbaren Geschichten, die man durchaus weiterstricken könnte, fanden sich die Höhepunkte. Wohingegen der Schluss, auf den lange hingearbeitet wird, etwas zu abrupt endet – insgesamt etwas zu arglos konstruiert wurde, enttäuschend wirkt.
Streckenweise hat Gabriel Delacruz auf seinen irren Fahrten leider etwas zu viele Bergabs, was bei der Länge (600 Seiten) nichts Erstaunliches ist. Dennoch hat Autor Puntí mit Mühe und Sorgfalt einige mehrere reizende Charaktere angefertigt. Es sei ihm hoch anzurechnen.
»Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz« besticht durch die raffinierte Konzeption, einer abenteuerlichen und ausgefallenen. Geduld bringt Rosen und diese wird hierbei benötigt, denn manchmal holt Puntí etwas zu weit aus. Dem ungeachtet versteht es der Spanier, eine (größtenteils) verlockende Story zu schmücken.
[Buchinformationen: Puntí, Jordi (18. April 2013): Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz. Verlag Kiepenheuer & Witsch. Aus dem Katalanischen von Michael Ebmeyer. Titel der Originalausgabe: Maletes Perdudes. 608 Seiten. ISBN: 978-3-462-04523-9]
Hallo Ilja,
ich danke Dir für die feine Besprechung. Ich habe mir das Buch bereits vor etlichen Wochen gekauft, war aber noch nicht dazu gekommen, es auch zu lesen. Ob ich es nun sobald in die Hand nehmen werde, weiß ich leider auch nicht. Es klingt so, als könnte man es ganz gut lesen, aber nicht unbedingt so, als müsste man es gelesen haben … 🙂 Da haben andere Bücher im Moment doch Vorrang.
Liebe Grüße
Mara
Hallo Mara,
jaaa, so könnte man es treffend zusammenfassen 😉 Musste mir anfangs auch überlegen, ob ich es nicht gleich weglege. Allerdings entwickelte es sich mit der Zeit. Überhaupt ist es, meiner Meinung nach, ebenso kein gutes Zeichen, wenn ich nebenbei noch andere Bücher anfange – was hier der Fall war 🙂
Liebe Grüße zurück
Ilja
Welch eine interessante Besprechung. Danke dir! Das erste Zitat, stimmt mich sehr neugierig.
LG
Freut mich, dass sie Neugierde hervorruft 🙂
LG zurück!
Ich habe den Roman am Freitag im Buchladen schon kaum noch aus der Hand bekommen. Allein mein Verstand, dass ich im Moment doch genaug anderes lese, hat mich vom Kauf abgehalten. Und nun besprichtst Du es und machst mich wieder sehr neugierig auf das Leben Gabrial Delacruz´.
Viele Grüße, Claudia
Welcher Zufall… 🙂 Weiterhin wünsche ich dir viel Erfolg, beim Auslesen des wahrscheinlich großen Bücherstapels! 😉 Problem kenne ich. Falls du Gabriels Geschichte doch noch irgendwann länger zur Hand nehmen solltest, bin ich auf deine Meinung gespannt!
Liebe Grüße,
Ilja
Für all die, die noch nicht in dieses Werk eingetaucht sind: es lohnt. Aber, Ilja, du hast recht, das Ende enttäuscht und das ist natürlich übel nach so vielen Seiten. Ansonsten: die Idee, die hinter diesem Roman steckt und die unvergesslichen Charaktere, sowie die ständige Frage nach dem, was zufrieden (noch nicht mal glücklich) macht- sehr gut!
LG
Martina
Liebe Martina, habe dem nichts mehr hinzuzufügen, empfand es schlicht genauso! 🙂