Entfachte Begeisterung durch einen mir neuen, unbekannten Autor bringt etwas mit sich: der sofortige Wille gleich seine anderen Werke zu konsumieren. Genau das ist mir mit dem Kolumbianer Tomás González passiert. »Das spröde Licht« war genialisch, nun folgt auf der abzuarbeitenden Liste »Horacios Geschichte«.
Horacio liebt seine Kühe, seine beiden Brüder Elias und Álcario, seine Ehefrau Margarita, die ihm viele Töchter und einen Sohn geschenkt hat, seinen VW, aber auch Kunst, Antiquitäten, Pferderennen, Kaffee und vor allem Zigaretten. Insgesamt ist er ein liebevoller Vertreter seiner Zunft, hat allerdings Angst vorm Sterben. Leiht sich von seinen Geschwistern Geld, statt seine Kunstschätze, die sich in der Garage türmen, zu verkaufen. Versucht sich in seinem Haus, ein Treffpunkt um sich über Kosmetik auszutauschen der weiblichen Geschlechter, mit denen die Emanzipation voranschreitet, zu behaupten.
Neben dem Fürchten vor dem Ableben steht im Einklang die Sorge, vor dem krank werden. Dennoch raucht er guten Gewissens trotz seines schwachen Herzens und genießt das Coffein.
Er hatte einmal zwei Bände der ›Geschichte der Medizin‹ gelesen und dankte Gott vor ganzem Herzen, dass er ihn erst nach der Erfindung der Anästhesie hatte zur Welt kommen lassen. Amputationen, Trepanationen, Schreie, die in dunklen Gewölben widerhallten, wo die Aasfliegen summten. Knochensägen, von deren Zähnen Blut troff. Wurmige Beine und Arme, die Hunden vorgeworfen wurden, die in riesigen Meuten angerannt kamen und Staub aufwirbelten. Ärzte, die mitten in der Operation pinkeln gingen, ohne sich um ihre Patienten zu scheren, die sie heulend anflehten, ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Die Ärzte, die, ohne sich die Hände zu waschen, in den Operationssaal zurückkehrten und die blutigen Messer an ihren Ekel erregenden Schürzen abwischten. Willkürlich wurden Meißel angesetzt, die den Deckel über der Gehirnmasse abhoben, bevor das Skalpell tief ins Innere des Kopfes tauchte und die Patienten in Zungen zu reden begannen oder von einem betäubenden Rosenduft überwältigt wurden oder Gott erblickten. (S. 60)
Es zeichnet sich ab, dass Horacio nicht nur aufgrund seiner Laster kaum weiter lange leben wird. Denn Horacios Charakter gleicht dem eines Nervenbündels. Die schwere Geburt einer Kuh macht ihn ganz irre. Ebenso, dass sein angeschafftes Auto von der Polizei beschlagnahmt wird oder wenn er träumt, dass jemand auf dem Friedhof lebendig begraben wurde. Nach dem ersten Infarkt ändert Horacio entsprechend nicht seine Gewohnheiten und alsbald folgt der zweite.
Er war bestürzt. Die Vorstellung, der Krach in seinem Haus könnte einmal ganz aufhören, versetzte ihn in Schrecken. Die Verminderung des zu ihm heraufdringenden Partylärms erschien ihm wie die Vorstufe einer unendlich viel größeren, ja gänzlich undurchlässigen Stille, und der Magen zog sich ihm zusammen. Wenn er durchs Wohnzimmer ging, schien alles wie eingefroren, die Frauen schauten ihn an, wie die Tiere die über die Weiden gehenden Menschen anschauen. Aber wie hätte er, ausgerechnet er, der sich so oft über das Geschnatter seiner Schwägerinnen mokiert hatte, Margarita bitten können, ihnen zu sagen, sie sollten so viel Lärm machen, wie sie wollten, oder dass sie sich seinetwegen sogar nackt ausziehen könnten. Es gab kein Zurück mehr. Es war, als habe er sich selbst ein Stück weiter auf den Weg in die unaufhaltsame Auslöschung geschickt. (S. 171)
Tomás González beschreibt viele vermeintliche nebensächliche und alltägliche Situationen, die seinem Protagonisten, Horacio, allerdings nie gleichgültig sein können, sondern ihn gleich ins Grübeln, Mitfühlen, Kritisieren befördern. Erneut haut González in seinem etwas unspektakulären und eher ruhigem Roman, der sich in den Jahren 1960-61 abspielt, Weisheiten en masse heraus.
»Wenn du alles bewusst erlebst, wirst du feststellen, dass es keine ausweglose Situation gibt.«
»Der Tod eines Menschen, den das Leben aufgezehrt hat wie das Feuer den Baumstamm hat etwas Friedliches«, schrieb er in sein Heft, »Die Seele eines alten, verbrauchten Menschen steigt heiter auf wie die Sonne am Morgen. Der Tod eines Menschen aber, der noch voller Leben steckt, ist das Schrecklichste, dem man auf der Welt begegnet. (S. 116)
González soll einmal gesagt haben, dass er Literatur schreibe, die sich nicht verkaufen würde. Er widmet sich in seinen Werken vor allem nicht der Kriminalität, Politik und Geschichte Kolumbiens, sondern erschafft Menschen, die anzufassen sind. Er überschreite die Grenzen Kolumbiens und dringe so in die Weltliteratur vor, schreibt Peter Schulze-Kraft im Nachwort. Durchaus!
Zum zweiten Mal begeistert mich Tomás González. Mit seiner Art über das Leben zu schreiben. Mit seinem außergewöhnlichen Stil. Mit seiner Gabe und dem Talent. »Horacios Geschichte« zeigt viele Kontraste des Lebens. Widmet sich aber ebenfalls den unwichtigen Dingen, dem Geruch von Bananenstauden, die für manche doch wichtig sein können. Bleibe dabei: González ist bravourös.
[Buchinformationen: González, Tomás (2011). Horacios Geschichte. S. Fischer Verlag. Aus dem Spanischen von Peter Schultze-Kraft und Gert Loschütz. 208 Seiten. ISBN 978-3-596-18480-4]
Deine Beschreibung erinnert mich an Daniel Galera, den ich soeben fertig gelesen habe. Ein Erzähler der einfachen und alltäglichen Dinge!
Vielen Dank, dass du diesen Roman vorgestellt hast.
LG buechermaniac
Galera sagt mir jetzt gar nichts, wie wahrscheinlich der Großteil der brasilianischen Autoren, die durch die FF Buchmesse nun übersetzt werden… Wird es bei dir eine Besprechung geben? 🙂 Bin neugierig!
Habe nur kurz bei Suhrkamp gestöbert und entdeckt, dass er eine Lesung (ganz in der Nähe von mir) hält. Vielleicht findet sich ja Zeit.
LG zurück!
Mir hat Galera auch nichts gesagt. Aber das ist verständlich, denn „Flut“ ist das erste Buch, das ins Deutsche übersetzt wurde. Eine Rezension auf der „lesewelle“ wird noch geliefert.
LG buechermaniac