Wer war er denn nun, dieser M. Agejew? Dieses Pseudonym? Von wem stammt es? Vladimir Nabokov? Lange Zeit wurde genau das vermutet – und am Ende doch aufgelöst: Mark Levi, literarisch unauffällig. Der Jude, der aus Russland nach Deutschland auswanderte, aufgrund des aufkeimenden Faschismus nach Istanbul zog und danach in Richtung Eriwan, Armenien, ließ sich dennoch augenscheinlich vom großen Nabokov inspirieren, nicht umsonst wurde ebenso über eine mögliche Koproduktion der Zwei gemutmaßt. Jahrzehnte später beschäftigte man sich erst damit, aus wessen Feder der »Roman mit Kokain« entsprungen sei. Dieser erschien erstmals 1936 in einem russischen Exilverlag in Paris, geriet dann während des Zweiten Weltkriegs komplett in Vergessenheit, bis Lydia Chweitzer die erste Ausgabe zufällig aus einer Kiste gräbt und ihn voller Begeisterung ins Französische übersetzt. Hierzulande brachte man das Werk bereits einmal 1988 auf Deutsch heraus, konzentrierte sich jedoch nicht auf das Original, sondern auf die französische Übersetzung. 2012 wird dann der »Roman mit Kokain« aus dem Russischen erneut ins Deutsche übertragen, über den Manesse Verlag veröffentlicht – und anders als 1988 mit dem korrekten Ende versehen.
Eine Reduzierung auf die Sparte »Suchtliteratur« würde dem »Roman mit Kokain« nicht genügen. Ebenso erscheint es schwierig, ihn lediglich in Form einer Geschichte zu lesen, da sie darüber hinaus geht. Vielmehr zeichnet Mark Levi samt der inneren Zerrissenheit den kontinuierlichen Untergang des jungen Ich-Erzählers, Wadim Maslennikow. Dieser bewahrheitet sich als wahrer Ekel, erntet reichlich Antipathie. Eigenschaften wie Egoismus, Inntoleranz, Unehrlichkeit prägen sein Bild. Tatsächlich erinnert dieser Charakter an Protagonisten, die Fjodor Dostojewski zur Genüge ablichtete: Raskolnikow in »Schuld und Sühne« (stellt sich bei seinem Ruin zwiespältig über andere), Aleksej samt seiner Sucht in »Der Spieler«.
Wadim Maslennikow besucht ein Gymnasium (übrigens das gleiche wie Mark Levi) und lebt in Armut. Der Hass darauf, nicht wohlhabend zu sein, schlägt sich auf seine Mutter nieder, für die er Scham empfindet, sie beklaut, sie nicht respektiert, noch toleriert. Jegliche vorprogrammierte Mutter-Sohn-Beziehungen vermissen lässt. Er schlendert durch Moskaus Straßen der Vorrevolution, auf der Suche nach sexueller Befriedigung, schreckt nicht davon ab, seine Geschlechtskrankheit weiterzuverbreiten. Selbst den kleinen Lichtmomenten, seines ansonsten trostlosen Lebens, kann er nichts abgewinnen:
Das war merkwürdig in meinem Leben. Fühlte ich Glück, so genügte es, daran zu denken, dass es nicht von Dauer war – da endete es schon. Das Glücksgefühl endete nicht, weil die äußeren Umstände, die dieses Glück begünstigten, verschwanden, sondern allein kraft der Erkenntnis, dass diese äußeren Umstände überaus bald und unbedingt verschwinden würden. Kaum war mir diese Erkenntnis gekommen, war der Glücksmoment vorbei – aber die äußeren Umstände des Glücks waren noch nicht verschwunden, sie existierten weiterhin, nur ärgerten sich mich jetzt. (S. 19)
Während seiner Schulzeit umgibt sich Wadim mit den Klassenbesten und reichen Freunden Stein und Jegorow. Bald jedoch werden diese Musterschüler vom ehrgeizigen Burkewitz, einem Außenseiter überholt, der sich nur vereinzelt äußert, stets jedoch Tadel ausspricht und als Intellektueller sogar die christliche Instanz in der Institution zurechtweist, in Bezug auf Glaube und Krieg. Ansonsten lauscht Wadim seinen offensichtlich talentierteren, intellektuellen Kameraden und hält sich meist raus:
Auf seinen verworrenen, stählernen und unzerstörbaren Drähten, auf denen wir alle sicheren Fußes gingen, war es unmöglich, Burkewitz nicht zu folgen; wir kamen zu der unerschütterlichen Einsicht, dass, wir früher in Zeiten des Pferdefuhrwerks, so auch heute in Zeiten der Dampflokomotive, das Leben für den dummen Menschen leichter ist als für den klugen, für den Gerissenen besser als für den Ehrlichen, für den Gierigen üppiger als für den Gutmütigen, für den Grausamen angenehmer als für den Schwachen, für den Herrischen prächtiger als für den Bescheidenen, für den Verlogenen ergiebiger als für den Frommen und für den Wollüstigen süßer als für den Enthaltsamen. Dass dem so wäre und ewig so sein würde, solange es auf der Erde Menschen gäbe. (S. 41/42)
Der tiefe Fall bahnt sich für den (mittlerweile) Studenten an, der keine tiefen Empfindungen zeigen kann oder das oberflächliche, starke Männerbild verkörpern will, als er der verheirateten Sonja begegnet, sich in sie verliebt und ihr doch fremdgeht. Wadim grübelt zwar über die Geschlechterdifferenz (»…,dass die Spaltung von Sinnlichkeit und Geistigkeit beim Mann Zeichen seine Männlichkeit war, bei der Frau dagegen Zeichen ihrer Hurenhaftigkeit.») und wiegt sich im schwachen Trost, dass einer Frau Derartiges nicht zumutbar ist. Sein resistenter Geist, wahre, ungespielte Emotionen zu transportieren, macht sich letztlich für das Aus des Verhältnisses verantwortlich. Beim ersten Liebesspiel scheitert er daran, dass er keine Sinnlichkeit abrufen kann.
«Was soll ich tun, was soll ich nur tun?», fragte ich mich verzweifelt, wohl wissend, dass Sonja eine Frau war, die ich ungestüm und auf der Stelle nehmen musste, und zwar nicht, weil Sonja Widerstand leisten könnte, sondern weil ich, brächte ich den Mut auf, meine in diesen Minuten erschlaffte Sinnlichkeit mit einer langen Reihe schmutziger Berührungen zu entfachen, damit zwar meine männliche Eigenliebe retten, zugleich aber endgültig und unumkehrbar das Schöne in unserer Beziehung zerstören würde. (S. 131)
Wadims subjektive, folgenschwere Blamage, ermutigt ihn, den spröden Weg einzuschlagen, den Sonja so nicht akzeptieren will. In einem letzten, Brief, erklärt sie ihm, wie überflüssig sie ihm geworden sei. Wadim sie ohne jegliche Begrüßungen in Absteigen »mit jedem Mal brutaler, schonungsloser und zynischer nahm«, sie aber stets darauf pochte und hoffte, dass die Liebe dadurch zu retten sei und schließlich konkludiert, dass es dafür keinen Zweck habe, ihr eigenes Leben zu zerstören.
Aus Jux und Dollerei, eher mehr aus Langeweile, dem elenden und bedauerlichen Alltag zu entfliehen, greift Wadim zum weißen, exklusiven Pulver. Flüchtet in die Welt voller Lügen, die schön sein kann, »noble Gefühle« verleiht, allerdings begrenzt ist und schwindelt. Um später aufzuwachen und doch wieder durch die abnehmende Wirkung in Depressivität zu verfallen, die in »niederträchtiger, geradezu animalischer Art« auftaucht.
Ich will die Nacht festhalten, mir geht es gut, es ist so klar in mir, ich bin maßlos in dieses Leben verliebt, ich will, dass alles langsam vergeht, will jede Sekunde dieser Liebe genießen und festhalten, aber nichts hat Bestand, die ganze Nacht vergeht zugleich unaufhörlich und schnell. (S.179)
Der Ich-Erzähler unterschätzt mit den ersten Zügen die Macht des Kokains. Driftet immer weiter ab wie des Autors Bruder, der ebenfalls an Kokain zugrunde ging:
Dass das Kokain die Fähigkeit hatte, ein physisches Glücksgefühl hervorzurufen, ohne dass ich psychisch von den äußeren Ereignissen um mich herum abhängig war – und selbst dann, wenn das Abbild dieser Ereignisse in meinem Bewusstsein eigentlich Schwermut, Verzweiflung und Kummer hätte auslösen müssen –, genau das war es, was dem Kokain seine schreckliche Anziehungskraft verlieh, der ich nicht widerstehen noch entsagen konnte, mehr noch: Ich wollte es noch nicht einmal. (S. 193)
Frei nach dem Sprichwort »wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein«, nimmt Wadims Leben sein Ende, obwohl ihm eigentlich noch ein Bekannter hätte retten können, den er seinerzeit, ungewöhnlich für ihn, ebenfalls einmal schützte.
M. Agejews (oder Mark Levis) Roman besitzt das gewisse Etwas. Ist knifflig, beinhaltet wunderbare Bilder (»Ist es möglich, dass die menschliche Seele einer Schaukel gleicht, der, wenn sie in Richtung Menschlichkeit angestoßen wird, schon vorherbestimmt ist, anschließend in Richtung Bestialität auszuschwingen?«), eine begabte Sprache, berückende Gedanken und fasst vereinzelt, eigentlich nebensächlich, Eindrücke der Februarrevolution sowie Oktoberrevolution auf.
Sicherlich kann man es ankreiden, dass ein wenig (zu viel?) Geheimnistuerei zwecks Marketing mit dem mysteriösen Autoren seitens der Verleger betrieben wird. Lese ich in den Feuilletons darüber, beziehen sich die Hälfte der Schriften mehr auf die Demaskierung von M. Agejew, als darauf was er verfasst hat. Bestreben durchgedrungen, für mich dagegen eher nebensächlicher Natur.
Tatsächlich glänzt der »Roman mit Kokain« (das Wort »Roman« ist im Russischen doppeldeutig; Romanze und literarischer Roman zugleich) mit der Rabiatheit, der eigentümlichen Weltanschauung und der vorantreibenden Beschreibung des Verderbens. Ein manchmal zu grob geschnitztes, kleines Meisterstück – völlig abwegig auf welchem Wege es nun zu uns gelangt ist.
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