„Angesagter geht’s kaum“, hörte ich aus einem Mund, „DIE Autorin für zeitgenössische Literatur momentan in Russland.“ Grund genug sich mit Viktorija Tokarjewa auseinanderzusetzen, die eigentlich eine filmische Ausbildung genoss und sich erst später dem Schreiben widmete. „Alle meine Feinde“ stellt ein Band von fünf Erzählungen dar, die vorab gesagt, es in sich haben.
Die erste Erzählung trägt den Titel des Buches. Es ist eine Gegenüberstellung. Auf der einen Seite die „Feinde“, auf der anderen die „Geliebten“. Keine Sympathiepunkte können Anka, Tanka und Wanke sammeln. Kindermädchen Anka, eine Vor-Perestroika-Frau, setzt der Ich-Erzählerin zu. Macht ihr den Eindruck, als ob sie sie ausnehmen würde wie ihren Kühlschrank. Tanka ist die neue Flamme ihres Vaters, eine geizige, knickrige Alte, die es scheinbar auf das komplette Erbe ihres Ehemannes abgesehen hat. Wäre da noch Wanka, der die Vortragende nach Strich und Faden narrt und ein Teil ihres Datscha-Grundstücks sichert. Den Kontrast zum Hass bilden Hund Foma, dem sie nie böse sein kann, Enkelin Sascha und die eigene Arbeit, die Malerei.
Ich träumte von der Zeit, da meine Feinde verschwinden, sich aus meinem Leben davonmachen würden. Eines Tages würde ich aufwachen, und sie wären nicht mehr da. Und so geschah es tatsächlich.
Reue heißt das Stichwort in dieser Geschichte, verbunden mit dem Verzeihen. Denn erst als alle Feinde weg sind, bemerkt die Erzählerin, dass sie bei vielem verkehrt lag. Dass man das schätzen muss, was man hat. Dass die Feinde gar auf einer Stufe stehen hätten können wie die Geliebten.
„Aus dem Leben der Millionäre“ heißt die zweite Erzählung. Eine Schriftstellerin fliegt mit ihrer Verlegerin Anastasie nach Paris und lernt den reichen und älteren Maurice kennen, der sich nicht entscheiden kann, wie es um sein Liebesleben aussehen soll. Er verlässt die eigene krebskranke Frau, beginnt eine Affäre mit Anastasie, liebt aber ein äthiopisches Topmodel, das sich in der Blütezeit ihres Lebens befindet. „Kann ein verliebter Mensch alt sein? Alt ist man dann, wenn man nichts mehr will“, gibt die Schriftstellerin Maurice den Tipp. Dennoch kehrt er zu seiner Frau zurück:
„Man muss das Altvertraute bis zum Ende lieben. Das lieben, was einem gegeben ist, und nicht etwas Neues anfangen.“
Mika und Maka sind die Protagonisten in „Es ändert sich nichts“, ein Ehepaar. Während Mika stets in seinem Sessel sitzt, sich mit seinen Freunden trifft und mit dem Pantoffel wippend Zeitung liest, schafft die Ehefrau und Malocherin Maka das Geld an. Eine Scheidung will sie, den faulen Mika zum Teufel schicken. Beide sind Gegenstücke und gehören dennoch zusammen, was Maka erst am Schluss merkt – als alles zu spät ist.
Sie sieht aus wie Rembrandts Saskia, trägt den Namen Viktorija Schwein, arbeitet allerdings auf einer Hühnerfarm und ist die Hauptfigur in „Schweinesieg“. Jungfräulich liebt sie und träumt von einem Moderator aus dem Fernsehen. Sie provoziert, dass die Hochzeit ihres Idealbilds in Brüche geht, worauf dieser sie dann zum Kindermädchen für seine autistische Tochter anleiert. Viktorija hofft vergeblich, dass der Star ihre Liebe erwidert, aber nichts da.
„Du musst verstehen“, hob Vera an. „Es gibt Träume, Illusionen. Und es gibt das Leben…“ Vika blinzelte. „Die Träume – das sind Liebe und Reichtum. Und das Leben – das ist die tägliche Arbeit, das ewige Sparen, Leiden, das Alter und der Tod.“
Und wie es in einem Märchen so passieren kann, öffnen sich dem Unantastbaren irgendwann die Augen…
In der letzten Erzählung, „Männertreue“, geht es um das Älterwerden, Rückblicke und überhaupt erneut die Treue der Frauen zu ihren Männern. Egal, wie belastend die Beziehungen sind, alle Figuren Tokarjewas halten ihren Schwur. Trotz aller Komplikationen. Trotz aller Missverständnisse.
Fünf brillante Erzählungen von einer erstaunlichen Autorin, die regelrecht Weisheiten versprüht mit einem ausgesprochenen Scharfsinn und annehmlicher Metaphorik das Leben betrachtend. Fünf Erzählungen mit ständigen Verweisen zu Größen wie Gogol, Puschkin, Tolstoi, die es wert wären, noch ausführlicher in Romanform behandelt zu werden. Eine besser als die andere. Aber alle gleichermaßen exorbitant. Tokarjewa ist eine Spezialistin vom Fach, ein großer Geist. Nach der letzten Seite werfe ich eine Münze in die Luft und lasse sie darüber entscheiden, was als nächstes von ihr auf die Agenda kommt. Ein wahrer Glücksgriff!
Oh, von ihr gibt es ein wundervolles Hörbuch: “Eine Liebe fürs ganze Leben”.
Mir gefiel es.
LG
Sabine
Hörbücher sind leider nicht so meins. Aber dafür erscheint Ende Oktober ein neues Tokarjewa-Werk namens „Eine von vielen“. Da bin ich schon sehr gespannt drauf.