Nahezu episch ist dieser Roman. Der in Aserbaidschan geborene Alexander Ilitschewski glänzt mit einer sprachlichen Brillanz, die einzigartig und ungewöhnlich für zeitgenössische Literatur erscheint. Bei allem Lob hat seine Geschichte dennoch zweifelsohne ihre Längen und hätte durchaus minimiert werden können. Dennoch verinnerlicht »Der Perser« Elemente und Sequenzen eines Meisterwerks.
Vergleichsweise lange habe ich für dieses Buch gebraucht. Das lag nicht nur an der Seitenzahl (750), sondern häufig an der fehlenden Kohärenz. Lange kommt das Stück nicht richtig in Fahrt, eine klassische Handlung offenbart sich nicht, der (rote) Faden reißt regelmäßig.
Ein Großteil dieses Werkes besteht aus Erinnerungen der Kindheit und Jugend (Liebe, Abenteuer, Theater, Mentoren) zweier Freunde. Beide, Ilja und Hașem, treffen sich dort, wo sie aufgewachsen sind, nach langer Zeit wieder; in Aserbaidschan. Während Ilja in die USA emigrierte, von seiner Frau verlassen wurde, macht er irgendwas mit Erdöl und schaufelt als Geologe ordentlich Kohle. Hașem, der einst mit seiner Mutter aus dem Iran flüchtete, ist geblieben und arbeitet in dem Naturschutzgebiet Șirvan. Dieser faszinierende Typ mit Dreadlocks trägt den Roman, denn Hașem wird als regelrechtes Multitalent skizziert: ein Gelehrter, Ornithologe, Naturwissenschaftler, Forscher, Entdecker, Literat, Übersetzer, eine Art Sufi, der Ritualen wie Yoga, Muğamsingen wie Derwischtänzen nachgeht. Er wird für sein Wissen, seine Präsenz und Ideen von den anderen Wildhegern gefeiert, zum Anführer erklärt. Sie lesen ihm von den Lippen, wie es Ilja ebenfalls tun wird, der sich nicht von Hașem lösen kann.
Eine Idee von Hașem ist, dass die menschliche Sprache aus dem Gesang der Vögel entstanden ist. Er untersucht wie sein Vorbild Welimir Chlebnikow (Dichter des russischen Futurismus) diese möglichen Zusammenhänge, handelt aber auch gleichzeitig mit Falken, die er Arabern verkauft, deswegen wird er ebenso auf den »Prinzen« Osama bin Laden treffen, der ihm noch zum Verhängnis wird. Er veranstaltet Lesungen für seine Heger, deutet Lyrik, analysiert und beschäftigt sich intensiv mit dem Glauben, wobei er einen primitiven Gott ablehnt. Gebannt wartet er auf den Messias, zu dem er sich, als er sich hineinsteigert, selbst ernennen wird. Gleichzeitig möchte er das Paradies finden und hat alle Vorstellungen der Religionen davon gesammelt: »Was wir brauchen, ist eine neue Vorstellung vom Paradies: nämlich als Dienst am Allmächtigen – durch Arbeit, Denken und Tun, stets Bewusstseinsentwicklung, Wissenserwerb, Entdeckung Seiner Schöpfung in all ihrer Schönheit und Größe.« Er meint, dass die Religion modernisiert werde müsse und ganz so Unrecht hat dieser Charakter sicher nicht: »bereichert durch Erkenntnisse von Wissenschaft, Kunst, Medizin, Philosophie und Technologie. Die Wissenschaft weiß heutzutage weit mehr über Gott zu sagen als jeder Priester …« Laut Hașem soll dabei keine neue Religion entstehen, sondern eine »entschlossene Umgestaltung«. Alles müsse auf den Prüfstand, unterschiedliche politische Ströme sollten verglichen werden, sodass aus jeder religiösen oder sonst wie gesellschaftlicher Bewegung das Quäntchen Heiligkeit extrahiert werden kann: »Es muss ein Gedankenaustausch stattfinden, ein Bewusstseinstoffwechsel, durch den die Religion, zu der ein bestimmtes Bewusstsein sich hingezogen fühlt, sich jeweils korrigieren und neu formieren kann.« Denn die Menschengeschichte soll sich selbst reflektieren, »weil Gottes Reich auf Erden nur den Fortschritt im Denken, im Handwerk und in den Künsten zu errichten ist […].« Gerade solche Passagen in diesem Werk sind verdammt groß!
Immer wieder wird auch die Flora und Fauna Aserbaidschans beschrieben, ausführlich und detailliert. So fragt man sich manches Mal doch, wozu diese ganzen Infos platziert sind? Sind sie doch meistens irrelevant für den Plot. Ohnehin gibt sich der Autor hier als ein wandelndes Lexikon, der über jedes wissenschaftliche Gebiet Bescheid weiß. Die Recherchen haben sicherlich Zeit verschlungen und die Präsentation dieser kann nerven, weil die eigentliche Handlung deswegen nicht voran geht. Will der Autor zeigen, wie viel er weiß und wie schlau er ist?
Immer wieder setzt der Verfasser sich ebenso mit der Heimat- und Landeskunde auseinander. Das sorgt dafür, dass wir einiges über Aserbaidschan, das vor dem Knall zur Sowjetunion gehörte, lernen. Baku! Was weißt Du über Baku? Ja, da war der Eurovision Song Contest 2012, Hauptstadt des Landes, am Kaspischen Meer gelegen … aber sonst? Baku war zu Beginn des 20. Jahrhunderts so etwas wie das »Paris des Ostens«, das Erscheinungsbild so eklektisch und außergewöhnlich, an Extravaganz nicht zu überbieten. Gefunden wurde dort »schwarzes Gold«, von einem Provinzstädtchen stieg es zu einer Metropole auf. Wurde gleichzeitig durch den Erdöl-Fund im Jahre 1849 so berühmt wie San Francisco als der Goldrausch ausbrach. In der Nähe, auf der Halbinsel Artjom, wurde schließlich die erste Meeresbohrsonde in Betrieb genommen. [Das erklärt auch, warum bei der Fußball-EM in Frankreich Banden mit der Aufschrift »Energy of Azerbaijan« zu sehen sind.] Die Rothschilds und Nobels investierten, auch Lenin, der Baku mit Erdöl, Licht und Energie verbunden hatte, wusste die Bedeutung einzuschätzen, der junge »Koba«, Josef Stalin, trieb dort ebenso sein Unwesen und versetzte die Einwohner in Angst und Schrecken. »Eine Stadt, raffiniert an die Hänge gebaut, wie hingeschrieben in flüssiger Ligatur. Von Luftströmen zugeschnitten, als Windfang aufgestellt. Vorsätzliches Gassengewirr, damit es, wenn der Hezri weht, nicht gar zu sehr zieht.«
Es reihen sich einige wunderbare Sätze aneinander, wie gesagt, sprachlich brillant. Ein weiterer Auszug soll das bekräftigen. Ilja über seinen Aufenthalt in Moskau: »Ob nun ein unerklärliches Heimatgefühl mich durch die Fenster meiner Wohnung anhauchte oder sich das große Nichts Tausende Meilen tief unter den Flugzeugflügeln dehnte – ich lebte auf dem Grat, Auge in Auge mit diesem so anmutigen und so grobschlächtigen, so rabiaten und so rührseligen, schranken- und hoffnungslosen Land, lebt in ihm und doch nur so, dass ich mit Stirn und Händen entlangwischte an einer dünnen Scheibe aus geistiger und emotionaler Sterilität, Nicht-Verstehen-Wollen.« (S. 35) Gratulieren muss man dem Übersetzer Andreas Tretner, der ohnehin großartig ist. Seine Übertragungen von Michail Schischkin (z.B. »Venushaar«) waren schon großes Kino. Wahrscheinlich hätte niemand ein ähnlich komplexes und variantenreiches Buch wie den Perser besser übersetzen können. [Zu empfehlen sind die Einblicke in das Arbeitsjournal.] Und Ilitschewski, den ich vorher nicht gelesen habe, reiht sich ohnehin in die Riege der außergewöhnlichen, zeitgenössischen, auf Russisch schreibenden Literaten ein: Michail Schischkin, Viktor Jerofejew, Vladimir Sorokin. Die Messlatte ist hoch, Ilitschewski überspringt sie gekonnt.
Und trotzallem lassen sich einige Schwächen enthüllen. Als Einstieg wird das Leben von Iljas Mutter nacherzählt, die als Russin gewaltsam zum Islam gezwungen wurde, bei einer Massenjagd fast umkam. An keiner Stelle im Buch wird im weiteren Verlauf darauf verwiesen. Ähnlich verhält es sich mit dem Ehe-Aus von Ilja: Die Ex ist der eigentliche Grund, warum er nach Aserbaidschan zurückkommt, weil sie sich dort mit ihrem neuen Macker aufhält. Die Ex wird allerdings auf über mehreren hundert Seiten vergessen, bis der Autor doch noch den Bogen bekommt und sie wieder am Geschehen teilnehmen lässt. Überhaupt sind es viel zu viele (bedeutungslose) Figuren, die der Verfasser kreiert und dessen Biografien er abspult.
Andererseits sind die Beschreibungen der Landschaften und der Gefühle häufig famos, poetischen Ausmaßes. Ilitschewskis Einwürfe und Eingebungen zeugen von einer immensen Kreativität, wenn sie wiederum allzu theoretisch rüberkommen können. Iljas Forschung über »LUCA« zum Beispiel: Er geht davon aus, dass die Urform des Lebens in Bakterien steckt, die im Öl enthalten sind.
Am ehesten lässt sich »Der Perser« mit einer Kette vergleichen. Alexander Ilitschewski entwirft Glieder, die sich alle unterscheiden, nicht immer rund sind, zueinander passen und Harmonie ergeben. Doch bei besonderen Steinchen sollte man genauer hinsehen, sie unter das Mikroskop nehmen, um den Wert zu erfahren, sie feinfühlig behandeln. Macht man das, stößt man immer wieder auf neue Facetten und Feinheiten. Diese Vorgehensweise empfiehlt sich ebenso beim Perser.
[Buchinformationen: Ilitschewski, Alexander (Januar 2016): Der Perser. Suhrkamp Verlag. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Titel der Originalausgabe: Перс (2009). 750 Seiten. ISBN: 978-3-518-42499-5]
[Zu weiteren Besprechungen von Bloggern hier entlang: Buecherrezension, Leseschatz und Zeichen & Zeiten.]
Dabei hatte ich schon gedacht, das wäre genau ein Buch für dich. Mir haben die Beschreibungen zur Flora und Fauna sehr gut gefallen, sind sie doch auch ein Kontrast zur beherrschenden Ölindustrie und wichtig für die Bedeutung des Naturparks, in dem Hasem wirkt und damit relevant für den Plot. Der Roman widmet sich so vielen Themen, dass ich sicherlich mit einer Lektüre nicht alles verstanden und aufgenommen habe, das muss ich ehrlich zugeben. Aber ich habe sehr interessante Einblicke und überraschende Informationen zum Land durch diesen Roman erhalten. Viele Grüße
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Danke für Deine differenzierte Besprechung, trotz Schwächen bleibt der Roman für mich interresant und ich hoffe, ich komme bald dazu, ihn zu lesen.
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