Das Untersuchen einer Mängelexemplar-Kiste in einem Supermarkt kann sich lohnen. Zwar nicht immer, hin und wieder kann man doch ein Schätzchen bergen, wie in diesem Fall. Milan Kundera sollte durch seinen Megaseller »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins« bekannt sein. In meinem Fund geht er der Frage nach, was den Roman zu Kunst macht. Die vorliegenden Essays, Gespräche, Notizen, ein »Wörterbuch seiner Romane« und eine Rede lassen zahlreiche Antworten darauf finden. Einige, die sich festgesetzt haben, sollen präsentiert werden.
Nach nur wenigen Seiten wird schnell deutlich, welch schlauer Bursche Kundera eigentlich ist. Durch und durch ein Intellektueller, der sich zweifelsohne in der Weltliteratur auskennt. Scheinbar alle prägnanten Werke aufzudröseln weiß, um die Besonderheiten genauer zu erläutern. Dabei sind seine Gedanken weniger auf die Theorie bezogen, speisen sich mehr aus der Sicht eines Praktikers.
Für den Tschechen besteht die einzige Raison d’Être eines Romans darin, »etwas zu entdecken, was allein ein Roman entdecken kann.« Dem Roman geht es darum, Lebenswelten zu beleuchten und gegen die »Seinsvergessenheit« anzukämpfen. Anders als der Historiker, der über bestimmte Ereignisse berichtet, erforscht der Romancier dagegen die Existenz und nicht die Realität. Zwei Beispiele dazu, die Kundera nennt: Raskolnikows Tat ist in der von Dostojewski beschriebenen Form (»Schuld und Sühne« bzw. »Verbrechen und Strafe«) nie geschehen. Die Welt, die Kafka entstehen lässt, »ähnelt keiner vorhandenen Wirklichkeit, sie ist eine extreme, nicht realisierte Möglichkeit der menschlichen Welt.« Dafür zeichnet sie sich durch eine »prophetische Dimension« aus, indem sie »eine Möglichkeit des Menschen und seiner Welt« zeigt. Obwohl Kafka nie bewusst war, dass sein Sehen gleichzeitig ein »Vorher-Sehen« war. Noch heute fabrizieren Kafkas Ergüsse Aktualitätsbezüge …
Der Geist des Romans setzt sich aus dem »Geist der Komplexität« zusammen, da jeder Roman versucht, dem Leser mit auf dem Weg zu geben, dass die Dinge komplizierter seien, als er denke. Ebenso sei der Geist des Romans der »Geist der Kontinuität«: »Jedes Werk ist Antwort auf die vorangegangen Werke, jedes Werk enthält die gesamte frühere Erfahrung des Romans.« Denn seit dem Beginn der Neuzeit, meint Kundera, ist »der Roman ein treuer Begleiter, als ein Abbild und Modell der Welt der Neuzeit.« Dabei besitzt der Roman eine unbegrenzte Freiheit. Dennoch solle der Leser am Ende einer Lektüre in der Lage sein, sich an den Anfang zu erinnern, sonst werde der Roman formlos, sonst verschwimme die »archetektonische Klarheit«.
Angesichts der Büchermassen kratzt sich auch Kundera an der Stirn. Wurde nicht bereits alles niedergelassen, was niedergelassen werden könnte? Wo sind die neuen bahnbrechenden Formen und Formate? Schließlich wiederholt sich doch alles irgendwie, irgendwo, irgendwann. Noch nicht Dagewesenes passiert sicherlich auf der inhaltlichen Grund-Ebene, sonst wäre das geistige Eigentum kein Eigentum, sondern eine Kopie von Kopien. Aber die Hülle des Romans bleibt stets eine ähnliche. Auf Bahnbrechendes, was Cervantes (»Don Quijote«), Herrmann Broch (von dem Kundera durch seine Unvollkommenheit der Werke fasziniert ist), James Joyce (»Ulysses«) oder Franz Kafka geliefert haben, wartet man vergebens. So fragt sich Kundera berechtigterweise, ob der Roman nicht all seine Möglichkeiten, all seine Erkenntnisse und Formen schon ausgeschöpft habe? Er deutet darauf hin, dass man die Geschichte des Romans mit »langen erschöpften Kohlegruben« verglichen habe …
Immer wieder bezieht Kundera (selbst Musiker) die Musik ein, die eine gewichtige Rolle in seinen Romanen einnimmt. »Ein Teil ist ein Satz. Die Kapitel sind Takte. Die Takte sind entweder kurz oder lang oder von sehr unregelmäßiger Dauer. Was uns auf die Frage des Tempos bringt.« Kundera möchte, »dass sich der Roman in seinen reflektierenden Passagen hin und wieder in Gesang verwandelt.« Dadurch werde dieser sozusagen zur »Litanei«.
Von diesem vielbelesenen Milan Kundera kann man nur lernen, auch weil er ganz neue Aspekte formuliert, die einem vorher vielleicht noch nie so bewusst waren. Hilfreich, insgesamt nicht zwingend erforderlich, ist es sicher ebenfalls, wenn man seine Werke kennt, über die er in diesem Buch spricht und auf die er verweist. Wem »Die Kunst des Romans« (wie mir) in einer Grabbelkiste begegnet, sollte nicht lange fackeln und es eintüten!
[Buchausgabe: Kundera, Milan (2010): Die Kunst des Romans. Fischer Taschenbuch Verlag. Aus dem Französischen (neuübersetzt) von Uli Aumüller. Titel der Orignalausgabe: L’art du roman (1986/2007). 208 Seiten. ISBN: 978-3-596-18129-2]
Danke für deine klugen Gedanken zu dem von mit tief verehrten Milan Kundera.
Ich bin auch immer mal wieder auf Tauchstation in diversen Wühlkisten und ab und an finde ich ebenfalls einen Schatz. Auch wenn ich mich über die Ersparnis freue, finde ich es wiederum schade, dass große Titel und gute Literatur dann so verramscht werden. Der Titel wandert auf meine Wunschliste, ich glaube, er gehört in ein gut sortiertes Buchregal. Deshalb vielen Dank für diesen wunderbaren Hinweis. Viele Grüße
Ich kam mit der Kunst des Romans von Kundera anfangs überhaupt nicht zurecht, mir hat die Systematik gefehlt, oft auch Herleitungen. Als ich das Buch dann nahm wie die Plauderei eines vielbelesenen Menschen, der äußerst gern und äußerst gut monologisiert, da wurde es richtig gut und – amüsant.
Ja, die Texte sind eher formlos und nicht immer kohärent, mehr als eine Ansammlung von Gedanken, Ideen und Feststellungen zu verstehen. Ich fand sie aber ebenso aufschlussreich!