Worum handelt es sich bei diesem Stück? Um einen Familien-, einen Gesellschafts-, einen Kriminalroman oder gar um ein Schauermärchen? Ein bisschen von allem. Egal, was es genau sein soll – dieser Mischling funktioniert (größtenteils). Joanna Bator gilt als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Polens und setzt in ihrem dritten Roman die Mosaiksteine einzelner Genres gekonnt zusammen.
Ich mag Polen, bin regelmäßig dort. Mag die herzliche Gastfreundschaft, die Kultur, das Essen, die Würste und das heimische Bier. Aber in so manchen Gesprächen mit Polen tauchen immer wieder Aussagen auf, mit denen ich mich nie anfreunden könnte. Sie sind von Islamfeindlichkeit, Antisemitismus und Nationalismus durchzogen. Die politische Richtung, die durch die führende, erzkonservative PiS-Partei bestimmt wird, ist europakritisch und leider, leider rechts – kein Wunder, dass Sätze mit solchen Aussagen getroffen werden. All diese Beobachtungen, die ich in Polen gemacht habe, tauchen ebenso in Bators Roman auf, wenn die Protagonistin des Stücks, Alicja Tabor, in ihre niederschlesische Heimatstadt Wałbrzych, an die sie keine guten Erinnerungen hat, nach 15 Jahren wiederkehrt. Das Ziel ihrer Reise: eine Reportage über drei entführte Kinder anzufertigen.
Abgebildet werden in drei Kapiteln Posts aus (fiktiven) Internetforen, um zu verdeutlichen, wie der allgemeine Tenor der Einwohner von Wałbrzych aussieht. Einer Stadt mit, nachdem die Bergwerke geschlossen wurden, einer hohen Arbeitslosenquote und Perspektivlosigkeit. Zigeuner müsse man rausschmeißen, denn die könnten nichts außer vergewaltigen, klauen und rauben. »juden zigeuner viecher vergasen.« Weiße Männer würden aussterben durch die afrikanische und arabische Invasion. »Fast schade, dass Hitler den Krieg verloren hat. Er hätte das Problem in den Griff gekriegt.« »das ist kein rassismus! Das ist patriotismus! dreckschweine raus aus Polen!!!« Die Tendenz wird, denk ich, deutlich …
Erst einmal wieder zurück zu Alicja Tabor! Ihre Heimkehr ruft unweigerlich Reaktionen hervor. Mit der Vergangenheit hat sie immer noch nicht abschließen können. Immer wieder muss sie an ihre ältere Schwester Ewa denken, die sich früh das Leben nahm. Immer wieder denkt sie an die Kindheit ohne Mutter und ohne Vater, der zwar anwesend war, sich wenig um seine Töchter gekümmert hat. Vernebelt durch einen Traum war: einen geheimnisvollen Schatz zu bergen, der sich neben oder unter dem Schloss Fürstenstein, was einst als Residenz von Adolf Hitler geplant worden war, verbergen soll (nach einem Nazi-Gold-Zug wird wirklich gesucht, diese Reportage der Zeit lohnt sich dazu). Die Protagonistin wird entsprechend nicht nur zur Detektivin in der Gegenwart, diese Reise ins Zurück macht sie auch unfreiwillig zur Ermittlerin in der entfernten Vergangenheit.
Wenn auch die Schwester, Ewa, nicht mehr unter den Lebenden weilt, ist sie dennoch ein fester Bestandteil des Gedächtnisses von Alicja, der Erzählerin. Ihre märchenhaften Geschichten von damals holen sie ein. Sogenannte »Katzenfresser«, Dämonen, die für schlechte Menschen stehen, treiben weiterhin ihr Unwesen. Auf der anderen Seite befinden sich »Katzenfrauen«, alte Mütterchens, die verwahrlost sind, gutmütigen Hexen ähneln und die im Kampf gegen das Böse entgegenwirken. Solche fantastische Beschreibungen werden immer eingepflegt. Auch Alicja verändert sich bei ihrer Spurensuche, wird sie doch gleichermaßen attackiert: »Diese Stadt hatte mich zu einer Person gemacht, die ein Solinger Messer mit sich herumtrug, eigenhändig an der steinernen Haustürschwelle geschärft.« Hat der selbsternannte Prophet, ein vermeintlich Irrer, durch den die Schmerzensmutter sprechen kann, der auf dem Marktplatz predigt und dessen Anhängerschaft immer größer wird, etwas mit den entführten Kindern zu tun, die zudem alle aus sozialschwachen Gegenden und Familien stammen?
Unterschiedliche Verschwörungstheorien werden Alicja begegnen. Ist die internationale Untergrundorganisation »Mossadam Husein« an allem schuld? Wer sind diese Verräter, die »Ausverkauf mit unserem Polen« machen? Was ist ihrer geliebten Schwester tatsächlich widerfahren, die Alicja stets unter ihre Obhut nahm und schützen wollte? Mit langen, ausufernden Inhaltsangaben, die bekanntlich in der Literaturkritik als Sünde im Gewerbe gelten, kann ich nichts anfangen. Hier, bei diesem Werk, das etwas mehr Seiten besitzt und auf der Zeitskala springt, hätte ich weit ausholen, können. Definitiv. Will es aber belassen, denn das Buch besteht aus einem Geflecht, das verworren ist. Was aber gleichzeitig die Stärke dieses vertrackten Romans ist. Die unterschiedlichen Handlungsebenen entgleiten der Autorin nie, die Marionetten, die sie auftreten lässt, ihre einzelnen Fäden verheddern sich nicht. Vielleicht baut sie jedoch am Ende eine Etage zu viel, vielleicht setzt sie zu sehr noch einen drauf, wenn die überraschenden, konstruierten Wendungen sich immer wieder toppen möchten. Wie auch immer … wollen wir das Haar in der Suppe nicht mühsam suchen. Die Brühe schmeckt außerordentlich, auch so.
Denn dieses Werk von Frau Bator überzeugt vor allem durch sein Variantenreichtum. Das Mystische und Sagenumwobene trifft immer wieder auf knallharte Realität, die sich durch Rassismus und Tristesse verdeutlicht. Bator, die ebenso bei der Sprache variiert, versteht es, die Stimmungen einzufangen, die sich bis zur Eskalation hochschaukeln. Sie verknüpft Traumatisches, Groteskes, Überzeichnetes, Gesellschaftskritisches, Historisches mit dem Whodunit-Prinzip. Ein durch und durch gelungener Roman, wenn auch ein paar i-Tüpfelchen weniger nicht geschadet hätten.
[Buchinformationen: Bator, Joanna (März 2016): Dunkel, fast Nacht. Suhrkamp Verlag. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes. Titel der Originalausgabe: Ciemno, prawie noc (2012). 511 Seiten. ISBN: 978-3-518-42497-1]
Bator ist eine Autorin, die ich schon seit Längerem im Blickfeld habe, aber noch nie gelesen habe. Jetzt wird es wirklich mal Zeit, auch weil es mich mittlerweile immer wieder literarisch in den Osten treibt. Deine wunderbare Besprechung habe ich sehr gern gelesen. Viele Grüße
Spannende Rezension – du hast das Buch völlig anders aufgenommen als ich! Ich muss sagen, ich bin überhaupt nicht damit zurechtgekommen. Nachdem ich Sandberg und Wolkenfern gelesen habe, war ich sehr begeistert von der Autorin, aber gerade dieses Buch fand ich total blöd. Für mich ist es vor allem an der Erzählperspektive und den Dialogen gescheitert, die für mein Empfinden nicht überzeugend waren. Tatsächlich ist deine Rezension aber für mich allen Punkten völlig nachvollziehbar und ich hätte das Buch gerne so gut gefunden wie du, allein schon weil ich ihre Bücher bisher so geliebt habe. Hast du ihre anderen Romane zufällig auch gelesen?
Interessante Sichtweise. 🙂 Kannst du präzisieren, was dich an der Erzählperspektive genau gestört hat? Mir haben manchmal diese Erinnerungen an die Schwester und die märchenhaften Stellen weniger gefallen. Irgendwie too much. Die Dialoge fand ich ansonsten gelungen, insbesondere wenn die Journalistin loszieht und Interviews führt. Die anderen Bücher von ihr kenne ich nicht und kann deswegen auch keine Vergleiche ziehen. 🙂
Es gab eine Stelle, an der mir das besonders augefallen ist, aber ich finde sie leider nicht wieder. Sie ist im Wald bzw. am Schloss laufen und reflektiert darüber, warum sie so unfähig ist, sich auf enge und dauerhafte Bindungen einzulassen. Vielleicht erinnerst du dich? Die Art ist für mich einfach nicht stimmig. Natürlich wendet sie sich mit ihren Gedanken an den Leser, aber so wie sie das macht, so ausformuliert und geordnet würde niemand über sich selbst nachdenken. So erzählt man höchstens über sich selbst. Lieber Leser, ich denke, dass ich aus folgenden Gründen beziehungsunfähig bin. Und das ist mir an mehreren Stellen im Buch aufgefallen, dass die Art, wie Gefühle oder Gedanken vermittelt werden, hölzern ist, zumindest nach meinem Empfinden. Dazu gehört auch, dass Gedanken oft mit „ich dachte, dass…“ eingeleitet werden. Das braucht es nicht, es ist klar, dass es ihre Gedanken sind und es nimmt die Unmittelbarkeit. Für sich genommen sind das natürlich totale Kleinigkeiten, die aber in der Summe dazu führen, dass ich den Stil nicht mochte.
Diese Märchen/magischen Geschichten fand ich auch schwierig. Am Anfang war es noch ganz spannend, nicht so richtig zu wissen, was wirklich passiert und was nicht, aber irgendwann wurde es mir zu viel mit dem ständigen Ektoplasma. Merkwürdig fand ich aber vor allem, dass eigentlich alles davon aufgelöst wird, bis auf diese Geschichte mit „Homar“. Ich bin nicht sicher, was das sollte.
Es gab natürlich auch gute Aspekte an dem Buch, das will ich gar nicht in Abrede stellen. Ich finde es zum Beispiel gut, wie sie den Nationalismus und religiösen Fanatismus darstellt. Ich fand allerdings diese Forenunterhaltungen nicht besonders gelungen. Mir ist klar, dass sie damit abbilden will, wie der öffentliche Diskurs darüber zum Teil geführt wird, aber es erschien so konstruiert. Vielleicht hab ich das auch einfach über 🙂 Ich mochte aber auch diesen leicht Psycho-Thriller angehauchten Einstieg mit der verbrannten Barbie und so weiter.
Ich hab natürlich auch eine Besprechung geschrieben, allerdings habe ich gerade noch so viele alte in der Warteschleife, dass es noch drei oder vier Wochen dauern wird, bis ich die unterkriege. Ich sag dir Bescheid, wenn sie online ist. Dann kannst du drunter schreiben, dass du das Buch total gut fandest 🙂
Also, ich fand das Buch nicht „total gut“, sondern „durch und durch gelungen“. Müsste ich eine Schulnote vergeben, hätte ich dieses Werk bei zwei bis drei angesiedelt. Es hat definitiv Schwächen, was ich darzulegen versucht habe. Diese Steigerungen, die den Plot ständig weiter toppen wollten, waren definitiv „too much“.
An die Stelle, die du kritisierst, erinnere ich mich. Vielleicht liest eine Frau solche Beziehungsaussagen anders als ein Mann 😉 Mich haben sie nicht sonderlich gestört, dein Ankreiden klingt jedoch ebenso plausibel. Dass die Protagonistin selbst traumatisiert ist, sollte allerdings auch klar sein …
Die Begegnung (bzw. Nicht-Begegnung) mit „Homar“ hat ein offenes Ende – stimmt. Hätte durchaus auch plastischer dargestellt werden können. Aber da gibt es einige Lösungen, die mir nicht gefallen und die nicht immer aufgehen. Die (sexuelle) Beziehung mit ihrem „neuen Nachbarn“ zum Beispiel: Die Protagonistin hinterfragt kaum, was ihn eigentlich in die Stadt treibt, obwohl sie doch so investigativ denkt. Genauso halte ich es zu einfach gelöst – Achtung Spoiler! –, eine Figur zum Täter zu machen, welche kaum in der Story vorkommt und komplett unbeteiligt ist. Huhu, Überraschung! Das ist allerdings viel zu simpel! Der vielschichtige Plot wird der Autorin manchmal zum Verhängnis, wenn man länger darüber nachdenkt.
Gerade die Forenunterhaltungen hielt ich für überaus gelungen und überhaupt nicht konstruiert. Wer regelmäßie in solche polnischsprachigen Foren schaut, wird z.T. Posts mit genau solchen Inhalten entdecken dürfen. Da geht es tatsächlich ähnlich ab!
Ich freue mich auf deine Besprechung und finde diese Diskussion im Übrigen spannend! 🙂 Liebe Grüße
Ich finde die Diskussion tatsächlich auch sehr spannend. Offenbar sind uns oft die gleichen Sachen aufgefallen, die aber sehr unterschiedlich ankamen.
– Kommentar enthält Spoiler –
Die Forenunterhaltung fand ich gut im Hinblick darauf, dass es die Feindseligkeit gegenüber verschiedenen Bevölkerungsgruppen etc. einführt, die ja auch eine Rolle im Verlauf der Geschichte spielt. Ich glaube, es scheitert auch ein bisschen an der Übersetzung, was ich nicht dieser speziellen Übersetzung ankreiden möchte, sondern der Tatsache, dass gerade sowas wie Internetjargon eben sehr speziell und schwierig zu übertragen ist. Für mein Empfinden ging da aber sehr viel Raum für etwas drauf, was man kondensierter hätte darstellen können. Das ist aber gänzlich subjektiv.
Dass sie nicht hinterfragt, was der Nachbar in der Stadt macht, war mir so gar nicht aufgefallen, aber du hast mit diesem Kritikpunkt völlig recht. Ich hätte bei seinem ersten Auftauchen auch vermutet, dass er eine andere Rolle einnehmen würde, eben weil er so geheimnisvoll aus dem Nichts kommt.
Von der Auflösung der Entführungsfälle hätte ich etwas anderes erwartet. Nachdem die ganze Atmosphäre in der Stadt so mysteriös und apokalyptisch ist, mit Knochenhändlern und so weiter, hätte ich eine weniger „weltliche“ Motivation dahinter vermutet. Generell fand ich die Auflösung mit dieser Jagd durch das unterirdische Labyrinth etwas überstürzt. Da hat mir die erfundene Entführung fast noch am besten gefallen.
Ich glaube, bei mir ist viel an dem Verhältnis zwischen leicht mysteriösen Elementen und Realität gescheitert. Magischer Realismus und ich werden keine Freunde, auch hier nicht.
Pingback: Joanna Bator: Dunkel, fast Nacht – schiefgelesen.net
Wie versprochen: https://schiefgelesen.net/2016/05/10/3982/
Ich mag Kieslowski, Preisner, das polnische Essen, die Gastfreundschaft und auch ich erschrecke oft vor erzkonservativen, fremdenfeindlichen Nationalismus. Hatte mir schon lange vorgenommen auch mal polnische Literatur zu lesen. So wird es wohl mein erstes Buch.
Mach das mal … 🙂 Polnische Werke, die ich darüber hinaus an dieser Stelle bereits besprochen habe, finden sich hier: https://muromez.wordpress.com/category/polnische-literatur/ Vielleicht ist da noch das eine oder andere Werk dabei 😉
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