Als im vergangenen Jahr der Nobelpreis an einen gewissen Franzosen gegangen ist, stand ich auf dem Schlauch. Weder ein Gesicht vor mir, noch hatte ich je von dem Namen oder seinen Werken gehört – und wie mir erging es, so schien es, wohl vielen anderen ähnlich: Patrick who? Zwei Werke habe ich – angetan von der Erzählweise – schließlich flott verschlungen, wie ein neues, empfohlenes Gericht beim favorisierten Imbiss um die Ecke: »Zweimal Modiano zum Mitnehmen, bitte!«
Dreh- und Angelpunkt im »Café der verlorenen Jugend« ist das Mädchen Louki, wahlweise auch Jaqueline, das von der Bildfläche verschwindet. Einst ist sie eine regelmäßige Besucherin des Lokals Le Condé gewesen, in dem sich Intellektuelle und Künstler treffen, sich volllaufen lassen und gerne zu härteren Drogen greifen. Vier Stimmen versuchen aufzuklären. Ein Student, den es damals magnetisch ins Condé zog, ein Privatdetektiv, der für ihren Ehemann ermittelt und ihr Liebhaber Roland, ein Schriftsteller, begeben sich auf Spurensuche. Auch die Vermisste kommt selbst zu Wort. Früh kristallisiert sich heraus, dass Louki nicht mehr ist. Verstorben? Weggezogen? Was ist mit ihr? Wie bei einem Maskenball wird nach und nach die Verkleidung abgenommen. Das Dickicht beseitigt: Sie wurde von früheren Dämonen und Gespenstern eingeholt.
Natürlich verstand ich das. In diesem Leben, das uns manchmal vorkommt wie eine große Brachfläche ohne Wegweiser, inmitten all dieser Fluchtlinien und verlorenen Horizonten, würde man gerne Bezugspunkte finden, eine Art von Kataster anlegen, um nicht länger das Gefühl zu haben, das man sich ziellos treiben lässt. Also knüpft man Beziehungen, versucht, ungewisse Zufallsbekanntschaften zu festigen. (S. 51)
Modiano schreibt geheimnisvoll, dicht und atmosphärisch. Immer wieder führt er den Leser durch das Nachkriegs-Paris der 60er Jahre, zahlreiche Plätze und Viertel werden beschrieben, wenn auch nicht ausschmückend, sondern mehr beiläufig. Teils wirkt es wie ein kriminalistischer Roman, dann wieder wie eine Liebesgeschichte, am Ende wie ein kurzes Werk über ein Mysterium voller melancholischer Elemente. Der hochgepriesene Autor zieht häufig die Vorhänge zu, bedient sich einer Kunst, die nicht sofort zu durchschauen ist und alles sofort offenlegt, sich eher langsam und feinfühlig entfaltet – gerade darin liegt der Reiz.
[Buchinformationen: Modiano, Patrick (2012): Im Café der verlorenen Jugend. Hanser Verlag. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Titel der Originalausgabe: Dans le café de la jeunesse perdue (2007). 160 Seiten. ISBN: 978-3-446-23856-5]
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Relativ am Anfang manifestiert sich ein Satz heraus, der Modianos Methodik wohl einschlägig fasst. »Von allen Satzzeichen, so sagte er mir, bevorzuge er das Fragezeichen.« Erneut handelt es wie »Im Café der verlorenen Jugend« um ein plötzliches Abtauchen. Dagegen wird »Ein so junger Hund« nur aus einer Perspektive betrachtet, dem Ich-Erzähler, der in den Neunzigern ein Bild von sich findet. Sich dadurch ins Jahr 1964 zurückversetzt, in dem ihn eine Beziehung mit dem Fotografen Francis Jansen verband. Damals hat er seine Arbeiten katalogisiert, Eindrücke vom privaten Leben des Künstlers gesammelt, der irgendwann alles stehen und liegen lässt, nach Mexiko auswandert.
Es ist nun einmal so, daß gewisse Koinzidenzen von uns leicht übersehen werden. Bestimmte Personen sind in unserem Leben mehrfach aufgetaucht, und wir ahnen nicht einmal davon. (S. 25)
Es gibt wenig Anhaltspunkte, warum es Jansen wegzog und er Paris den Rücken kehrte. Dafür wird sein Werdegang fragmentarisch abgebildet. Der Kriegsreporter Robert Capa hat ihn inspiriert, von ihm lernte er das Handwerk, auch wird seine Flucht während des 2. Weltkriegs und eine Beziehung zur Frau, die er regelrecht abwimmelt, thematisiert.
Der Erzähler versucht, zu erforschen, was sich hinter dem Rätsel Jansen verborgen hat. Gelegentlich und in Träumen fühlt er selbst, Jansen (nahe) zu sein. Gleichzeitig handelt es sich um ein Rückbetrachten, wie es damals war, als sich die eigene Identität noch nicht erkenntlich zeigte. Ein Werk, das regelmäßig nicht einleuchtend genug erscheint, sich inhaltlich dem Café ähnelt, wenn auch nicht genügend fassbar ist und dem es an Durchschlagskraft mangelt.
[Buchinformationen: Modiano, Patrick (2014): Ein so junger Hund. Aufbau Verlag. Aus dem Französischen von Jörg Aufenanger. Titel der Originalausgabe: Chien de printemps (1993). 112 Seiten. ISBN: 978-3-351-03609-6]
Find ich gut, dass Du den durchgeackert hast und hier vorstellst, den kannte vorher glaub ich wirklich kaum wer…
Schönen Sonntag,
Gerhard
Hallo Gerhard,
„durchackern“ klingt angesichts von gerade einmal 200 Seiten Lesestoff etwas übertrieben. 🙂
Einen schönen Sonntag wünsche ich dir auch und beste Grüße.
ok, wollen wir nicht übertreiben… 😉
Viele Grüße,
Gerhard
Ich habe 2014 „Ein so junger Hund gelesen“ und war verzaubert. Leider steht mein Eindruck dazu nicht auf meinem Blog, aber hier: http://www.lovelybooks.de/autor/Patrick-Modiano/Ein-so-junger-Hund-1121389090-w/rezension/1125565342/
Mit dem Entwirren hatte ich auch so meine Probleme. Ist nicht ganz durchgedrungen. Muss es aber auch nicht, wie du passend bemerkt hast. 🙂
Wie wunderbar du die beiden Bücher eingefangen hast. Eine Freude dies zu lesen. Ich danke dir. Ich schätze auch noch von Modiano ganz besonders „Im tiefstem, Vergessen“ und „Die kleine Bijou“
Danke dir ebenfalls 🙂 Betrachtet man die Klappentexte der anderen Werke von Modiano, scheinen sich die Romane, in gewisser Weise zu ähneln. Sie handeln von Erinnerungen und Verlusten, spielen meist immer in den Nachkriegsjahren. Ich glaube, dass ich jetzt erst mal Abstand nehme, weil sie mir auf dem ersten Blick etwas zu „verwandt“ sind, irgendwann aber sicherlich wieder dazu greifen werde.
Liebe Grüße!
Meine erste – von bisher drei- Begegnung mit Modiano lag tatsächlich vor dem Nobelpreis. Reiner Zufall beziehungsweise eine gute Buchhandlung machte es möglich.
Den Roman „Der Horizont“ besprach ich im August 2014:
Patrick Modiano: Der Horizont | notizhefte
https://notizhefte.wordpress.com/2014/08/29/patrick-modiano-der-horizont/
Die Ähnlichkeit der Bücher ist vorhanden, aber nicht störend, wie ich finde. Mir gefällt die besondere Atmosphäre, die der Autor herzustellen vermag.
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