Der November 1989 wird ewig in der Geschichte verankert sein. Zum einen fällt die Berliner Mauer. Zum anderen beginnt in der Tschechoslowakei die Samtene Revolution, durch die sich das Land vom Realsozialismus lösen und demokratische Strukturen schaffen wird. Aber nicht jede politische Neuorientierung bringt nur Gewinner hervor, auch Verlierer lassen sich finden, die trotz aller Vorteile von den Fortschritten nicht profitieren. Der vielgepriesene, tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudiš zeigt die Kehrseite der Medaille.
Vandam ist einer von diesen Leuten, deren Hass auf die kapitalistische Ausrichtung seines Landes immer größer wird. Er heißt so, weil er genauso viele Liegestützen wie Jean-Claude Van Damme – mein Action-Held aus den 90ern – schafft. Bei der Samtenen Revolution soll er laut einer Legende eine tragende Rolle eingenommen haben, damals auf der Prager Nationalstraße, wo alles begann. Verbessert hat sich für ihn seitdem nicht viel, ganz im Gegenteil. Wie sein Opa und Vater ist er ein Raufbold (»gute alte Handarbeit«), ein Kneipentyp, der stets mit seinen Jungs in der Spielunke »Severka« anzutreffen ist und die Biergläser hebt. In der Prager Nordstadt, zwischen den Plattenbauten, wo sich kein Tourist freiwillig hinbegibt.
Der Protagonist sieht sich als letzten Krieger, letzten Römer und Europäer an. In Monologen (oder Reden) appelliert er an seinen Sohn: Er solle seinen Geist und Körper trainieren. Denn der »Frieden ist nur eine Pause zwischen zwei Kriegen«. Entsprechend müsse man gewappnet sein, neue Konflikte können sich anbahnen. Aber so cool, fehlerfrei und lehrerhaft auch Vandam wirkt, so trostlos ist im Gegensatz dazu seine Situation. Er profiliert sich durch Schlägereien, Stammtischdiskussionen an der Bar und sein Wissen über vergangene Schlachten der Weltgeschichte. Im Grunde bleibt er jedoch außerhalb dieser Sphäre ein Niemand, ein Lackierer mit Drogenvergangenheit, einer ordentlichen rechten Geraden und ein ehemaliger Knacki.
Jaroslav Rudiš reduziert die Sprache in diesem Roman, viele Passagen würden ebenso in Poetry-Slam-Form funktionieren, sind beinahe rhythmisch. Damit begibt er sich auf das Niveau einer eher trostlosen Umgebung, in der viel vom Damals geschwärmt wird, als es noch provinzieller zuging. Immer wieder schafft er Verweise: Der Wald mit seiner Ulme oder der Wolf, der Vandam einst begegnete, nehmen bedeutende Funktionen ein. Und diesen Vandam hat es tatsächlich ähnlich gegeben, Rudiš traf ihn – natürlich am Tresen – und der Gezeichnete erzählte seine Lebensgeschichte. Warum der Autor ihn zum Gegenstand eines Werkes macht?
Ich wollte ein Buch schreiben über unser Land, das zwar im Herzen Europas liegt, aber gern so tut, als passierte nichts um uns herum. Ich wollte darüber schreiben, wie wir die Welt von unseren Kneipen aus beobachten und hoffen, alle Kriege und Krisen mögen an uns vorbeiziehen. Ich wollte ein Buch schreiben über die Wende und die Jahre nach der Samtenen Revolution, die uns eine Freiheit beschert hat, die wir nicht zu schätzen gelernt haben. Ich wollte ein Buch schreiben über den tschechischen Humor. Über Bier, Knödel, Kraut und Schweinebraten. Über die politische Kultur nach der Wende. (S. 157-158)
Rudiš gelingt all das, in einem knappen Werklein einzufangen. Es geht um Werte, die dörflich und hịnterwäldlerisch erscheinen. Um gebrochene Nasen und um die körperliche Kraft. Es geht um politische Einstellungen, die diffus sind, wenn Vandam den rechten Arm hebt, sich aber gleichzeitig dafür entschuldigt: »Sei keine Mimose, das ist ein alter römischer Gruß! Ist doch nur alles Spaß. Ich bin ein Römer. Kein Nazi. Warum sollte man in Europa nicht mit dem römischen Gruß grüßen dürfen?« Es geht um Träume, um die Liebe, um tief sitzende Stachel, um das Früher, um das Jetzt und um die Zukunft. Wie beim echten Jean-Claude in seinen Filmen läuft es für Vandam ebenso auf ein Finale hinaus: Mann gegen Mann. Wer wird in diesem Duell die Oberhand behalten?
Angereichert ist »Nationalstraße« mit sehr viel Humor, der schnell in nationalistisches Gehabe umschlagen kann. Denn das zeigt diese nette Momentaufnahme rund um einen schrägen Typen und Antihelden: Abstand von Fremden wird in den Betonsiedlungen immer genommen. Darüber hinaus gleicht Rudiš gelungener Roman einer soziologischen Studie. Warum Vandam so ist, wie er ist, lässt sich dennoch nicht genau beantworten. Sein Horizont ist trotz seines historischen Wissens beschränkt. Seine Blase bleibt die Nordstadt der tschechischen Hauptstadt. Dort besitzt er einen Heldenstatus – aber nur dort.
[Buchinformationen: Rudiš, Jaroslav (Februar 2016): Nationalstraße. Luchterhand Literaturverlag. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová. Titel der Originalausgabe: Národní třída. 160 Seiten. ISBN: 978-3-630-87442-5]
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Liegt hier auch noch im Stapel der zu lesenden und rezensierenden Bücher.
Den kenn ich, auch hier ist dieser groß. Bin gespannt, was du davon hältst. Rudis kannst auf jeden Fall in einem Rutsch durchlesen!
Hmmm, ich kenne das Buch (noch) nicht, aber den Rudis. Mir scheint, du hast da was auf den Punkt gebracht, wofür ich im Falle des Vorgängerwerks „Alois Nebel“ viel länger gebraucht habe. Hut ab.
Rudis, ob alleine oder im Verein mit Jaromir99, scheint mir ein sehr ehrlicher Bilanzier der besonderen tschechischen Misere zu sein. Was es lesenswert für Nicht-Tschechen macht, ist die trotzdem gegebene Vergleichbarkeit mit dem Nachwende-Blues der anderen osteuropäischen Regionen, wie ja auch die Ex-DDR eine ist.
Das war mein erster Rudiš, aber ich kann mir vorstellen, dass es da diverse Parallelen zur DDR und Konsorten geben kann …