Die Zahlenkombination 15 eingegeben, auf dem Kanal eigens für Kinder gelandet. Das war das Highlight am Ende der Woche. Jedes Mal schalteten wir ein, wurden Zeugen wie das Böse besiegt und das Gute meist Hand in Hand mit einer Liebsten abzog. Märchenfilme am Sonntag! Und diese stammten meist aus der Tschechoslowakei, hatten ihren ganz eigenen Charme, zogen uns immer wieder vor die Röhre. »Gute Nacht, süße Träume« vom tschechischen Autor Jirí Kratochvil kann ebenfalls als ein solches betrachtet werden, das durchaus auch für Ausgewachsene etwas sein könnte. Es gibt zwar keine Könige, Prinzessinnen und Drachen, dafür andere höhere Wesen und viel Witz. Ebenso befindet man sich nicht im Mittelalter, dafür in Brünn im Protektorat Böhmen und Mähren, das mächtig zerbombt ist, dafür aber endlich von den Nazis befreit wird.
Eine kurze Recherche im Netz bestätigt, dass »Gute Nacht, süße Träume« scheinbar vom Feuilleton überhaupt nicht behandelt wurde (kann es am etwas kitschigen Titel liegen?) und auch sonst eher wenig bis kaum rezipiert wird. Das ist schade, denn der Roman kann was. Er kann so viel, dass er sich nach und nach zu einem echten Pageturner entwickelt, der urkomische Szenen offenlegt und im Grunde eine herzliche Angelegenheit ist. Für Freunde von fantastischer Literatur, von historischer, bis hin von kriminalistischer.
Zwei Haupthandlungen lassen sich ausmachen. Zum einen treffen sich Kostja und Kuba in der Brünner Bahnhofhalle, die einem Schwarzmarkt dient, weil Geld nichts mehr wert ist und die Leute alles tauschen, um etwas Beißfestes zu bekommen. Kostja kauft dort ein Gemälde von Ilja Repin, einem russischen Realisten, mit dem ihm etwas Geheimnisvolle, Intimes und Persönliches verbindet. Kuba wird auf ihn aufmerksam, sie lernen sich kennen und ziehen gemeinsam los: Kostja benötigt Medikamente für sein Sanatorium. Es geht das Gerücht rum, dass ein UNRRA-Ami sich in Brünn befindet, der im Besitz des neuen Wundermittels Penicillin ist. Gemeinsam forschen die beiden, werden zu Detektiven, die Mr. Penicillin unbedingt finden müssen.
Höchstwahrscheinlich gibt es diesen Ami hier nirgends. Aber es mir zu denken, habe ich trotzdem das Recht. Das heißt ja noch nicht, dass ich nicht daran zweifeln darf. Ich bin aus tiefstem Wesen Agnostiker, ein eingefleischter Zweifler, weiß zugleich aber, dass wir dieses Penicilin dringend benötigen. […] Sie können mich auslachen, weil ich um irgendwelche Leben in irgendeinem Sanatorium kämpfen will, wenn der Tod hier schon so alltäglich ist, dass ganze Trupps zum Einsammeln der Leichen organisiert werden und alle Parks und Gärten sich in Friedhöfe verwandelt haben. Trotzdem glaube ich, wir müssen es versuchen. Nichts gibt mir die Berechtigung, es aufzugeben. (S. 167)
Zum anderen wäre da Jindřich, dessen jüdische Eltern in einem KZ umgekommen sind. Er dagegen hat überlebt, weil Bekannte ihn jahrelang versteckt hielten. Nachdem die Luft immer reiner wird, die Rote Armee Hitlers Schergen nach und nach vertreibt, kehrt er nach Brünn zurück. Holt sich das Elternhaus wieder und bekommt Unterstützung, von einer Zigeunerin, einer Baba Jaga, die ihm die sprechende Katze Kanka mitgibt, die ihn von da an begleitet. Jindřich ist nämlich ein Auserwählter, für den besondere Missionen vorgesehen sind. Dafür bekommt er Hilfe von Wesen, die das Schicksal minimal beeinflussen können: »Wir sind so was wie Geschichtskorrektoren, die nur winzige Fehler ausbessern dürfen, an die groben Schnitzer dürfen wir nicht rühren.«
Die Welt ist nicht gerecht und wird es niemals sein. Das, was wir jetzt alle durchgemacht haben, zeugt davon, dass sie grausam und voller Hass ist. Und es besteht nicht die geringste Hoffnung, sie könnte von Natur aus anders ein. Aber das Böse kann sich nur mit zeitweiliger Assistenz des Guten verwirklichen. Es braucht das Gute neben sich als sein Gegenstück, als seinen Kontraststoff, seine Projektionsfläche. Ohne die Existenz des Guten bliebe das Böse unbenannt. Das Gute ist daher nur da, weil das Böse es zulässt. Allerdings ist das bis zu einem gewissen Grad ein Sieg des Guten. Weil der Zeiger der Waage auf die Weise zwar ständig zur Seite des Bösen hin ausschlägt, die Schale des Bösen dabei aber nie, nie hinabsinkt, nicht ganz am Boden aufsitzt. Doch nicht einmal das bekommen wir umsonst. Das Böse braucht zwar den Kontraststoff, kann ihn aber aus dem eigenen Wesen nicht erschaffen. Darum müssen wir uns bemühen, das liegt immer an uns. (S. 52)
Im Grunde spielt der Roman hauptsächlich an einem Tag und ist nebenbei eine Stadtführung durch Brünn – eine Karte der zweitgrößten Stadt Tschechiens, die nach den ganzen Attacken einem großen toten Fisch ähnelt, befindet sich im Anhang. Kostja, Kuba und Jindřich treffen bei ihren Abenteuern auf die verschiedensten Kreaturen. Da wäre ein Bär, der zur Cash Cow wird, weil er zur Musik einer Drehorgel tanzen, seinen Hut heben kann, damit Lebensmittel verdient, und die blinde Seiltänzerin auffängt, die zwischen den Häusern balanciert. Da wäre eine Liliputaner-Hochzeit, ein Minotaurus, eine Theater-Gruppe und so weiter. Komik findet sich zur Genüge, obwohl sie zwischen den eingestürzten Häusern, den vielen Leichen, Opfern, letzten Gefechten und Nachwirkungen nicht immer angepasst erscheint.
Doch gerade das macht die Erzählung in dieser Märchenstunde aus, die zudem intelligent, herausfordernd, weil sie sich stets auf einem höheren Niveau befindet, erzählt wird. Die ganzen Nebenhandlungen, kleine Geschichten und Anekdoten am Rande reihen sie da ein und wurden gekonnt verknüpft. Die Figuren haben alle ein Profil, versuchen, sich nicht unterkriegen zu lassen, während der Autor immer mit seinem Stil kokettiert, sodass die Protagonisten auch mal flüstern müssen, damit der auktoriale, herumschleichende Erzähler es nicht hört, da er schließlich nicht alles wissen müsse.
Ende gut, alles gut ist aber, insgesamt betrachtet, nicht. Die Nationalsozialisten werden von den Kommunisten ersetzt – rot statt braun – und auch die Roten haben eigene Interessen bei ihrer Neuausrichtung, wie der Autor final vorausblickt. Kostja wird nach der Befreiung nicht bleiben, Jindřich genauso wenig. Einen bleibenden Eindruck hinterlässt dagegen die Geschichte, die sich wahrscheinlich mehr der postmodernen Literatur zuordnen lässt. Jirí Kratochvil, und da kann man dem Verlag in seiner Wortwahl nur zustimmen, schafft es, eine unverwechselbare Sprache für eine Zeit zu finden, in der nichts gewiss erschienen ist. Das gelingt ihm, manchmal urkomisch, todtraurig, dann wieder melancholisch. Ein Roman, der mehr beachtet werden sollte – unbedingt.
[Buchinformationen: Kratochvil, Jirí (September 2015): Gute Nacht, süße Träume. Braumüller Verlag. Aus dem Tschechischen von Christa Rothmeier. 400 Seiten. ISBN: 978-3-99200-147-7]
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Vielen Dank für diese Rezension! Von Jiří Kratochvil ist im Laufe der Jahre einiges auf deutsch erschienen, aber – wie in der Besprechung auch konstatiert wird – von der Kritikerzunft wird der Autor leider und unverständlicherweise ziemlich vernachlässigt. Er ist einer der besten tschechischen Gegenwartsautoren – aus der Generation, die ihr Debüt noch in Samizdat-Zeiten vor der Revolution von 1989 hatten. Schauplatz seiner Texte ist regelmäßig Brno (Brünn)… Ach so, klar, Kratochvil ist sozusagen explizit bekennender Vertreter der Postmoderne – eine Erzählsammlung aus den 1990ern trägt den Titel „Má lásko, postmoderno“ ([Du] meine Liebe, Postmoderne“ 😉
Bis auf Milan Kundera, der ja ebenfalls aus Brünn stammt, kenne ich eigentlich auch gar keine anderen tschechischen Autoren. Vielleicht ändert sich das mit Kratochvil, der mir sehr gut gefallen hat und ich erkunde mehr. Falls du Tipps hast, immer her damit. 😉
Hm, von den „modernen Klassikern“ sei Dir als erster Bohumil Hrabal (1914-1997) empfohlen – „Ich habe den englischen König bedient“, „Allzu laute Einsamkeit“… Für mich am schönsten sind die Bücher aus seiner autobiographischen Trilogie „Městečko u vody“ (Das Städtchen am Wasser, gemeint ist Nymburk, wo Hrabal Kindheit und Jugend verbrachte). Umfasst deutsch „Die Schur“ und „Schöntrauer“ (sowie den – aber deutlich schwächeren, da zu viele Zugeständnisse an die Anforderungen des Literaturbetriebs im real existierenden Sozialismus machenden – Schlussband „Harlekins Millionen“). Aus demselben Themenkreis „Das Städtchen, in dem die Zeit stehenblieb).
Als zweiter Josef Škvorecký (1924-2012), vor allem „Eine prima Saison“, eines meiner Lieblingsbücher. Der Ich-Erzähler, Danny Smiřický, ist ein Gymnasiast, der außer daran, wie es ihm endlich gelingen könnte, ein Mädchen „herumzukriegen“, und an Jazzmusik an nicht viel anderes denkt und von einem Liebesmisserfolg zum nächsten stolpert. Wäre eine ganz harmlose, zum Teil wirklich schreiend komische Pubertätsgeschichte – wenn sie nicht vor dem Hintergrund der deutschen Besatzung spielte, so dass die „prima Saison“ ganz am Schluss ein jähes Ende findet. Danny ist auch die Hauptfigur in zwei weiteren Büchern, „Die Feiglinge“ (spielt 1945 in den Tagen des Kriegsendes) und „Das Mirakel“ (spielt in den 1950ern und 60ern).
Von den noch lebenden Autoren zum Beispiel Jáchym Topol – „Nachtarbeit“ oder „Zirkuszone“. Seine Bücher sind allerdings deutlich düsterer als etwa die von Kratochvil. „Die Teufelswerkstatt“ befasst sich sehr bissig mit der „Gedenkstättenindustrie“.
Einer meiner besonderen Lieblingsautoren ist Michal Ajvaz – den gibt es allerdings traurigerweise nicht auf deutsch (womit wir erneut zum Thema „Vernachlässigung tschechischer Autoren“ kommen). Bei Ajvaz ist die Realität immer unsicher und unzuverlässig. In „Druhé město“ (Die andere Stadt) zum Beispiel findet der Erzähler durch ein Buch mit geheimnisvollen Schriftzeichen Zugang zu einer „anderen Stadt“ mitten in Prag, in der beispielsweise die Sockel der Statuen auf der Karlsbrücke Ställe für Mini-Rentiere sind). Ajvaz‘ Bücher sind von einer überschäumenden Fantasie – wenn Du so etwas magst, kannst Du es auf englisch, französisch oder auch russisch (да, точно, Муромец: „Другой город“, СПб. 2004) lesen…
Und noch ein P.S. zu Škvorecký: auch in „Der Seeleningenieur“, einem weiteren Hauptwerk, taucht Danny Smiřický auf – der im übrigen insgesamt auch deutlich autobiographische Züge trägt und quasi Škvoreckýs Alter ego ist.
Wow, vielen Dank. Da ist reichlich Expertenwissen dabei, das mir hilfreich sein wird. Ich werde nach einigen Werken mal Ausschau halten und sie inspizieren. Tolle Anregungen!