Meir Shalev – Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger

Meir Shalev - Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger»One day baby, we’ll be old, and think of all the stories that we could have told«, dudelte  Israeli Asaf Avidan über die Radiostationen der Republik. Schriftsteller Meir Shalev sieht sich dagegen mittlerweile schon angegraut, denkt nicht nur über das (möglich) Erlebte nach, sondern hält es fest. Shalev stammt aus einer Familie, die begnadet Geschichten erzählt – und diese Schilderungen, die manchmal umgeformt, deren Teile manchmal ausradiert werden, bringt Shalev charakterfest aufs Papier.

Die menschliche Erinnerung erwacht und erlischt, wie sie will. Sie verdunkelt oder beleuchtet Ereignisse, vergrößert und verkleinert die handelnden Personen, erniedrigt sie, und kehrt sie wieder, dann wo und wann es ihr passt. Sie hat keinen König, keinen Polizisten, keinen Katalog und keinen Gouverneur. Geschichten vermengen sich, Tatsachen treiben neue Sprossen, Situationen, Wörter und Gerüchte – oh die Gerüchte – landen in heilloser grandioser Unordnung in den Speichen der Erinnerung. Nicht, in chronologischer Reihenfolge, nicht nach Größe oder Wichtigkeit oder auch nur alphabetisch angeordnet. (S. 187)

Im Scheinwerferlicht steht Großmutter Tonia. »Sie war das, was wir ein »Original« nennen.« Aufbrausend, keimfrei, ordentlich und speziell. Macht ihrem Gatten gern Beine, sodass er mal tagelang ausbüxt. Stets mit ihrem besten Freund auf der Schulter – dem Lappen – , der das nächste sichtbare Staubpartikelchen sofort eliminiert. Niemand darf bei ihr im Haus die Toiletten benutzen, nicht duschen, nicht essen. Alles soll draußen erledigt werden, damit bloß kein Schmutz mitgebracht werde, sich ausbreite. Putzfimmel lässt grüßen.

Neben Tonia, die in den 20er Jahren nach Israel auswanderte, ist der zweite Protagonist ein amerikanischer Sweeper (von Großmutter »mit rollendem russischen R und tiefem russischen I-Laut« ausgesprochen). Das monströse Ding stammt von ihrem Schwager Jeschajahu aus den Staaten, der ihn fast über die sieben Meere schickt, um Rache zu üben. Dafür dass Tonias Mann Aaron, seine Geldgeschenke stets zurückschickte, »dieses kapitalistische Diasporageld«. Denn Aaron zählt sich als sozialistischen und zionistischen Pionier, der die Knochenarbeit in seinem Dorf Nahalal, einem Moschaw, schätzt.

»Die Sache war so«, wie die Großmutter stets zu sagen pflegt, Jeschajahu überlegt sich einen raffinierten Plan. Mit dem Ziel, dass Aaron sein neustes Präsent nicht so simpel rücksenden kann. Eine sperrige und ordentlich vernagelte Holzkiste. Darin ein Karton. Der Teufel persönlich darauf abgelichtet. Eine sexy amerikanische Hausfrau – mit Maniküre, neben Tschinga, was für chewing gum steht, die Todsünde.

Onkel Jizchack öffnete den Karton und hob etwas Großes und Schweres heraus, das in einem dicken, weißen Sack steckte. Das Funkeln wurde immer stärker, brach förmlich durch das Gewebe. Die Zuschauer traten raunend näher, machten sich bereit für das Licht, das gleich hervorquellen würde, […]. Münder klafften. Augen starrten. Nicht alle erfassten, was sie da sahen. Manche dachten, es handle sich um ein neuartiges Spitzengerät oder eine besondere ausgeklügelte Melkmaschine, wie sie nur Amerikaner erfinden konnten, eine Art Melkautomat, der auf der Weide hinter den Kühen herfährt. Aber die meisten Zuschauer begriffen sofort, dass sie einen weiteren kapitalistischen Luxusgegenstand vor sich hatten, und zwar einen der schlimmsten Sorte, dessen einziger Zweck Müßiggang und Verwöhnung war. (S. 179)

Doch schon bald verschwindet der personifizierte Sweeper, wird eingesperrt und beiseitegeschafft. Von Großmutter Tonia, die sich nach und nach mit einigen Eigenschaften des Staubsaugers irgendwie nicht anfreunden kann und wird zum tragischen, kleinen Helden.

Fast fleckenlos

Etwas zäh gestaltete sich der Anfang. Zahlreiche Namen wurden in den Raum geworfen. Für einen Rezipienten, der sich weniger mit der Historie und Kultur Israels respektive Palästinas beschäftigte, und mit Moschaws nichts anfangen kann, schwierig. Verweise wie »dazu später mehr« nervten. Nach und nach haute der Autor jedoch eine Schote nach der anderen heraus, die den Lesespaß ins Unermessliche steigen ließen.

Die skurrile Großmutter und der Familienhäuptling in Person wird mit eindringlichen Bildern versehen. Marotten und Wutausbrüche bringen nicht davon ab, Sympathie für die schrullige Frau zu empfinden, die es sich zur Lebensaufgabe im Nahen Osten machte, das Unhygienische mit aller Macht zu besiegen. Politik sucht man übrigens bei Meir Shalev vergebens.

»Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger« steckt voller charmanter Anekdoten. Meir Shalev hat das Portrait seiner eigenwilligen Oma und der Familie äußerst reizend aufgearbeitet. Obendrein agiert er als Chronist, hält das Bild der israelischen Gründergeneration und seiner Familie fest – melancholisch, adrett, so gut wie fleckenlos.

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2 thoughts on “Meir Shalev – Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger

  1. Lieber Muromez,
    ich danke dir für diese wunderbare Besprechung! Das Buch hatte zwar schon auf meinem „Interessante-Bücher-Radar“, aber irgendwie habe ich es dann doch ein bisschen aus den Augen verloren. Dank deinen wunderbaren Eindrücken und den Zitaten, ist es nun wieder zurück im Blickfeld. 🙂

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